»Wir müssen Elli befreien, solange er schläft«, sagte der Eiserne Holzfäller. »Warte, mir ist was eingefallen. Ich weiß, wie wir über den Graben kommen.«
Er fällte einen hohen Baum, so daß er auf die Schloßmauer fiel und eine Art Brücke bildete.
»Steig hinauf«, sagte er zum Scheuch. »Du bist leichter als ich.«
Der Scheuch trat an den Baum heran, wich aber sofort ängstlich zurück.
Als das Eichhörnchen dies sah, riß ihm die Geduld. Es sprang auf den Stamm und lief flugs auf die Mauer zu.
»Quirr… quirr… Du Feigling!« rief es zum Scheuch hinüber. »Hast du gesehen, wie man’s macht?« Als es aber einen Blick durchs Schloßfenster warf, schrie es voller Entsetzen: »Das Mädelchen liegt gefesselt auf dem Küchentisch, und daneben liegt ein großes Messer. Das Mädelchen weint… Ich sehe die Tränen fließen…«
Als der Scheuch dies hörte, vergaß er jede Gefahr und kletterte fast noch flinker als das Eichhörnchen auf die Mauer.
»O weh«, schrie er, als er durch das Küchenfenster das bleiche Gesicht Ellis erblickte, und plumpste wie ein Sack in den Hof.
Noch ehe er aufstand, sprang das Eichhörnchen auf seinen Rücken, lief über den Hof zum Fenster, schlüpfte durch das Gitter in die Küche und begann am Strick, mit dem Elli gefesselt war, zu nagen.
Der Scheuch schob die schweren Riegel zurück, ließ die Zugbrücke herab, und der Eiserne Holzfäller trat in den Hof. Er rollte die Augen und schwang drohend seine Axt.
Das wird dem Menschenfresser Angst machen, wenn er plötzlich erwachen und auf den Hof hinaustreten sollte, dachte der Holzfäller.
»Hierher, hier!« schnarrte das Eichhörnchen aus der Küche, und die Freunde eilten auf den Ruf herbei.
Der Holzfäller klemmte die Axt in den Türspalt, stemmte sich dagegen, und die Tür flog auf. Elli sprang vom Tisch, und alle vier, der Eiserne Holzfäller, der Scheuch, Elli und das Eichhörnchen, liefen, so schnell sie die Beine trugen, in den Wald.
Unter den Füßen des Eisernen Holzfällers dröhnten die Steinfliesen des Schloßhofs, worüber der Menschenfresser erwachte. Er stürzte aus seinem Gemach, und als er Elli nicht vorfand, raste er wie wild auf das Tor zu.
Der Menschenfresser war nicht hoch von Wuchs, aber sehr dick. Sein Kopf sah wie ein Kessel aus, sein Bauch wie ein Faß. Er hatte lange Arme wie ein Gorilla, seine Beine staken in hohen Stiefeln mit dicken Sohlen, und er trug einen zottigen Mantel aus Tierfellen. Auf dem Kopf hatte er statt eines Helms eine große eherne Kasserolle gestülpt, mit dem Griff nach hinten. Seine Hand umklammerte eine mächtige Keule mit scharfen Nägeln am dicken Ende.
Er brüllte vor Wut, stampfte mit seinen schweren Stiefeln über die Fliesen und fletschte seine scharfen Zähne, klaz-klaz-klaz.
»Ba-ga-ra, ihr Schelme sollt mir nicht entkommen!«
Der Menschenfresser holte die Flüchtenden schnell ein. Als der Holzfäller dies sah, lehnte er die entsetzte Elli an einen Baum an und machte sich kampfbereit. Der Scheuch blieb zurück, weil sich seine Füße immerfort in den Wurzeln und die Brust in den Zweigen verfingen. Als der Menschenfresser ihn erreichte, warf sich der Scheuch zu Boden, und der Menschenfresser, der das nicht erwartet hatte, stolperte und fiel hin.
»Ba-ga-ra! Was ist denn das für ein Scheusal?«
Der Menschenfresser war noch ganz benommen, da sprang der Eiserne Holzfäller auf ihn zu und hieb ihn mit seiner scharfen Axt mitten durch die Kasserolle entzwei.
»Quirr… quirr, das hast du gut gemacht«, rief das Eichhörnchen begeistert, hüpfte durch die Bäume und verbreitete im ganzen Wald die Kunde vom Tod des Menschenfressers.
»Großartig!« lobte der Eiserne Holzfäller den Scheuch. »Du hättest ihn nicht besser überrumpeln können, selbst wenn du ein Gehirn hättest!«
»Du bist ja schwer verletzt!« rief Elli erschrocken.
»Nicht der Rede wert«, wehrte der Scheuch gleichmütig ab. »Man wird freilich die Löcher zunähen müssen. Das Ungeheuer hat mir den Rock zerrissen, und ich fürchte, mein Stroh fällt durch.«
Elli nahm Nadel und Zwirn und begann zu flicken. Während sie so dasaß und nähte, drang ein leises Winseln an ihr Ohr. Der Eiserne Holzfäller stürzte ins Dickicht, und im nächsten Augenblick kam er mit Totoschka auf den Armen zurück. Das tapfere Hündchen war aus seiner Ohnmacht erwacht und der Spur des Menschenfressers nachgekrochen.
Elli dankte ihren Freunden von Herzen für ihre Opferbereitschaft und Tapferkeit. Sie nahm den entkräfteten Totoschka auf die Arme, und die kleine Schar zog weiter. Bald erreichten sie den gelben Backsteinweg, der zur Smaragdenstadt führte.
DIE BEGEGNUNG MIT DEM FEIGEN LÖWEN
In jener Nacht schlief Elli in einer Baumhöhle auf einem weichen Lager aus Moos und Laub. Sie träumte, daß sie gefesselt daliege und der Menschenfresser die Hand mit dem ungeheuren Messer über sie erhebe. Elli schrie auf und erwachte.
Am Morgen zog die kleine Schar weiter. Es war unheimlich im Walde. Im Dickicht hörte man die Tiere brüllen. Elli zitterte vor Angst, und Totoschka schmiegte sich mit eingezogenem Schwanz an die Beine des Eisernen Holzfällers, vor dem es nach dem Sieg über den Menschenfresser große Achtung empfand.
Unterwegs sprachen die Wanderer leise über die Ereignisse des Vortages und freuten sich über Ellis Rettung. Der Holzfäller lobte in einem fort die Findigkeit des Scheuchs.
»Wie flink du dich dem Menschenfresser vor die Füße geworfen hast, Freundchen Scheuch!« sagte er. »Ist dir vielleicht ein Gehirn im Kopf gewachsen?«
»Nein, da ist noch immer das alte Stroh«, erwiderte der Scheuch, seinen Kopf betastend.
Plötzlich schoß mit furchtbarem Gebrüll ein riesiger Löwe aus dem Gehölz. Er versetzte dem Scheuch einen Hieb, daß dieser sich überschlug und am Rande des Weges hinplumpste wie ein weiches Kissen. Ein zweiter Hieb traf den Eisernen Holzfäller. Aber die Krallen schlugen auf das Eisen, und der Holzfäller sank nur um und blieb sitzen. Der Trichter flog ihm vom Kopf.
Der kleine Totoschka warf sich tapfer dem Feind entgegen.
Das Ungeheuer sperrte seinen Rachen auf, um das Hündchen zu verschlingen, doch da stürzte Elli vor und deckte Totoschka mit ihrem Körper.
»Halt! Wag es nicht, Totoschka anzurühren«, schrie sie zornig.
Der Löwe blieb wie angewurzelt stehen.
»Verzeiht mir«, sagte er, »ich hab ihn doch nicht gefressen!«
»Aber versucht hast du es! Schämst du dich nicht, Schwache zu überfallen? Du Feigling!«
»Wo… woher wißt Ihr, daß ich feige bin?« stotterte verdutzt der Löwe. »Ha-at es Euch jemand gesagt?«
»Das sieht man doch an deinem Benehmen!«
»Merkwürdig«, sagte der Löwe verlegen. »Wie sehr ich mich auch bemühe, meine Feigheit zu verbergen, sie tritt dennoch zum Vorschein. Ich war schon immer feige, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.«
»Solche Unverschämtheit, einen armen, mit Stroh ausgestopften Scheuch zu überfallen!«
»Ist er wirklich mit Stroh ausgestopft?« fragte der Löwe, den Scheuch verwundert betrachtend.
»Natürlich«, erwiderte Elli, noch immer zornig.
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