»Damit kann man höchstens das Aufgespießtsein auf einem Pfahl mitten in einem Weizenfeld vergleichen«, unterbrach ihn der Scheuch. »Allerdings kamen Menschen vorbei, und ich konnte mich auch mit den Krähen unterhalten.«
»Als ich geliebt wurde, hielt ich mich für den glücklichsten Menschen der Welt«, fuhr der Eiserne Holzfäller seufzend fort. »Wenn Goodwin mir ein Herz gibt, werde ich ins Land der Käuer zurückkehren und meine Liebste heiraten. Vielleicht wartet sie noch auf mich…«
»Und ich ziehe trotzdem ein Gehirn vor«, beharrte der Scheuch, »denn ohne Gehirn ist das Herz zu nichts nütze.«
»Ich aber will ein Herz«, beharrte der Eiserne Holzfäller. »Ein Gehirn macht den Menschen noch nicht glücklich, und das Glück ist doch das Schönste auf Erden.«
Elli schwieg, denn sie wußte nicht, wer von ihren neuen Gefährten recht hatte.
ELLI WIRD VON EINEM MENSCHENFRESSER GERAUBT
Der Wald wurde immer dichter. Die Zweige, die sich in den Kronen verflochten, ließen keinen Sonnenstrahl durch. Auf dem gelben Backsteinweg war es fast dunkel.
Die Wanderer gingen bis spätabends. Elli war sehr müde, und der Eiserne Holzfäller nahm sie auf die Arme. Der Scheuch, der die schwere Axt trug, wankte hinterher.
Schließlich machten sie halt, um zu übernachten. Der Eiserne Holzfäller baute für Elli eine bequeme Laubhütte, vor der er mit dem Scheuch die ganze Nacht über sitzen blieb. Sie lauschten den Atemzügen des Mädchens und wachten über ihren Schlaf.
Am Morgen gingen sie weiter. Der Wald lichtete sich, die Bäume am Wegrand standen nicht mehr so dicht, und die Sonne schien hell auf die gelben Backsteine herab.
Wahrscheinlich hielt hier jemand den Weg instand, denn die Zweige, die der Wind abgebrochen hatte, lagen in Stapeln am Wegrand aufgeschichtet.
Plötzlich erblickte Elli einen Pfahl mit einem Brettchen, auf dem zu lesen war:
Wanderer, spute dich!
Hinter der Biegung werden
alle deine Wünsche in Erfüllung gehen!
Elli staunte.
»Was bedeutet das? Werde ich von hier geradewegs nach Kansas kommen, zu Vater und Mutter?«
»Und ich?« fügte Totoschka hinzu, »werde ich vielleicht Nachbars Hektor, den Prahlhans, verprügeln, der so tut, als sei er stärker als ich?«
Elli war außer sich vor Freude und stürzte vorwärts. Totoschka folgte ihr mit frohem Gebell.
Der Eiserne Holzfäller und der Scheuch, die der interessante Streit, ob das Herz dem Gehirn vorzuziehen sei oder umgekehrt, völlig in Anspruch nahm, merkten gar nicht, daß das Mädchen ihnen vorausgeeilt war. Plötzlich hörten sie es schreien und Totoschka wütend bellen. Sie liefen auf den Lärm zu, sahen aber nur noch eine zottige dunkle Gestalt im Dickicht verschwinden. Neben einem Baum lag ohnmächtig Totoschka, aus dessen Nase Blut strömte.
»Was ist geschehen?« fragte der Scheuch bestürzt. »Mir scheint, ein wildes Tier hat Elli geraubt.«
Der Eiserne Holzfäller erwiderte nichts. Er blickte nur starr geradeaus und fuchtelte drohend mit seiner riesigen Axt.
»Quirr… quirr…«, schnarrte ein Eichhörnchen höhnisch auf dem Wipfel eines Baumes. »Was ist geschehen? Zwei große kräftige Männer haben auf ein kleines Mädchen nicht aufpassen können, und ein Menschenfresser hat es geraubt.«
»Ein Menschenfresser?« wiederholte der Eiserne Holzfäller. »Ich wußte nicht, daß es Menschenfresser in diesem Wald gibt.«
»Quirr… quirr… Das weiß doch jede Ameise! Schämen sollt ihr euch! Habt auf das Mädelchen nicht achtgeben können! Nur das kleine schwarze Tierchen hat es tapfer verteidigt und den Menschenfresser gebissen, doch dieser versetzte ihm einen solchen Tritt mit seinem ungeheuren Fuß, daß es jetzt wahrscheinlich sterben wird…«
Das Eichhörnchen feixte und verhöhnte die beiden so sehr, daß sie vor Scham zu vergehen glaubten.
»Wir müssen Elli retten!« rief der Scheuch.
»Ja, ja«, sagte der Eiserne Holzfäller. »Elli hat uns erlöst, und wir müssen sie dem Menschenfresser entreißen. Sonst sterbe ich vor Schmerz…« Tränen rannen über seine Wangen.
»Du weinst ja schon wieder!« rief der Scheuch entsetzt und trocknete ihm die Augen mit dem Taschentuch. »Die Ölkanne ist ja bei Elli!«
»Wenn ihr dem kleinen Mädchen helfen wollt, so kann ich euch zum Menschenfresser führen, obwohl ich mich sehr vor ihm fürchte«, sagte das Eichhörnchen.
Der Eiserne Holzfäller bettete Totoschka behutsam auf das weiche Moos und sagte:
»Wenn wir zurückkehren, werden wir ihn gesund pflegen!« Und zum Eichhörnchen gewandt, sagte er: »Führe uns!«
Das Tierchen hüpfte von Zweig zu Zweig, und die Freunde folgten ihm. Als sie tief in den Wald eingedrungen waren, sahen sie eine graue Mauer vor sich.
Das Schloß des Menschenfressers stand auf einem Hügel. Eine hohe Mauer umgab es, die selbst eine Katze nicht hätte erklimmen können. Davor zog sich ein Wassergraben. Der Menschenfresser hatte die Brücke hochgezogen und zwei Riegel vor das eiserne Tor geschoben.
Er lebte in seinem Schloß allein. Früher hatte er Schafe, Kühe und Pferde und viele Diener gehalten. Zu jener Zeit kamen oft Wanderer, die in die Smaragdenstadt zogen, am Schloß vorbei. Der Menschenfresser fiel über sie her und fraß sie. Als die Käuer davon erfuhren, hörte der Verkehr auf der Straße auf.
Da begann der Menschenfresser seine Burg zu verwüsten. Zuerst fraß er die Hammel, Kühe und Pferde und dann die Diener, einen nach dem andern. In den letzten Jahren lauerte er im Wald unvorsichtigen Kaninchen und Hasen auf, die er mit Haut und Haar verschlang.
Als der Menschenfresser Elli raubte, jubelte er im Vorgefühl des üppigen Schmauses. Er trug das Mädchen in das Schloß, wo er es fesselte und auf den Küchentisch legte. Dann begann er sein großes Messer zu wetzen.
Klick… klick, klirrte das Messer.
Der Menschenfresser frohlockte:
»Ba-ga-ra! Eine solche Beute lob ich mir! Das wird herrlich schmecken. Ba-ga-ra!«
Und zu Elli:
»Ba-ga-ra! Das hab ich mir fein ausgedacht, das Brettchen mit der Aufschrift. Du glaubtest wohl, ich würde deine Wünsche erfüllen. Das könnte dir so passen! Nein, das hab ich als Köder für solche Gimpel wie du gemacht, ba-ga-ra!«
Elli flehte den Menschenfresser um Erbarmen an. Der aber hörte sie nicht und fuhr fort, das Messer zu wetzen.
Klick… klick… klick…
Er hob das Messer über das Mädchen, das vor Entsetzen die Augen schloß, ließ die Hand aber wieder sinken und gähnte.
»Ba-ga-ra. Das Wetzen des Messers hat mich müde gemacht. Ich will mich lieber für ein Stündchen hinlegen. Nach dem Schlaf schmeckt das Essen viel besser!«
Der Menschenfresser ging in sein Schlafgemach, und bald schnarchte er so laut, daß es im ganzen Schloß und sogar im Walde zu hören war.
Der Eiserne Holzfäller und der Scheuch standen vor dem Wassergraben und wußten nicht, was sie tun sollten.
»Ich würde hinüberschwimmen«, sagte der Scheuch, »doch befürchte ich, daß das Wasser mir die Augen, die Ohren und den Mund wegwäscht, und dann bin ich blind, taub und stumm.«
»Und ich würde ertrinken«, sagte der Eiserne Holzfäller, »weil ich doch so schwer bin. Ja, selbst wenn ich aus dem Wasser herauskäme, würde ich sogleich einrosten, und die Ölkanne ist doch nicht da…«
Während sie so standen und überlegten, hörten sie plötzlich das Schnarchen des Menschenfressers.
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