Der Eiserne Holzfäller war noch eine Weile zwischen den Wellen zu sehen, doch bald hatte auch ihn die Flut bedeckt. Nur der Trichter ragte noch eine Zeitlang aus dem Wasser und verschwand dann gleichfalls. So ging der unerschrockene, herzensgute eiserne Mann völlig im wogenden Strom unter.
* * *
Drei Tage und drei Nächte warteten Elli, der Löwe und Totoschka am Ufer, daß das Hochwasser zurückgehe. Es war ein herrliches Wetter, die Sonne strahlte, und das Wasser nahm schnell ab. Am vierten Tag schwamm der Löwe mit Elli auf dem Rücken, die Totoschka im Arm hielt, zur Insel hinüber.
Der Fluß hatte eine Menge Schlamm auf der Insel abgesetzt. Der Löwe und das Mädchen gingen aufs Geratewohl nach verschiedenen Seiten und gewahrten bald eine unförmige Gestalt, die mit Schlamm bedeckt und in Algen eingehüllt war. Elli erkannte den Eisernen Holzfäller und rief den Löwen, der mit ein Paar Sätzen herbeigesprungen kam und die Gestalt von der dicken Schmutzkruste befreite.
Unverwüstlich stand der Eiserne Holzfäller in der gleichen Haltung da, in der sie ihn verlassen hatten. Mit einem Büschel Gras reinigte Elli sorgfältig seine eingerosteten Glieder, dann löste sie die Ölkanne von seinem Gürtel und schmierte ihm die Kiefern ein…
»Hab Dank, liebe Elli«, waren die ersten Worte des eisernen Mannes. »Du hast mir wieder das Leben geschenkt! Guten Tag, Löwe, alter Kamerad! Wie froh bin ich, dich zu sehen!«
Der Löwe wandte sich ab, Tränen der Freude standen ihm in den Augen, die er verstohlen mit dem Büschel seines Schwanzes abwischte.
Bald waren alle Gelenke des Eisernen Holzfällers wieder in Ordnung, und er schritt fröhlich neben Elli, Totoschka und dem Löwen einher, die nach dem Floß Ausschau hielten. Plötzlich stürzte sich Totoschka auf einen Haufen Algen, beschnüffelte ihn und begann mit seinen Pfoten darin zu wühlen.
»Eine Wasserratte?« fragte Elli.
»Mit solchem Gesteck werd ich mich doch nicht abgeben«, erwiderte Totoschka verächtlich. »Nein, da liegt was Besseres drin!«
Unter den Pfoten des Hündchens kam zu Ellis großer Freude der Goldene Hut zum Vorschein. Zärtlich umschlang sie Totoschka und küßte ihn auf die schlammbeschmierte Schnauze. Den Hut legte sie in ihr Körbchen.
Die Wanderer fanden das Floß, das vertaut dalag, reinigten es von Schmutz und fuhren flußabwärts um die Insel, auf der sie das Gewitter überrascht hatte. Die Strömung trieb sie an einer langen Sandbank vorbei in den Fluß hinaus, dessen rechtes Ufer mit Strauchwerk bestanden war. Elli bat den Eisernen Holzfäller, das Floß dorthin zu steuern, denn sie hatte an einem Strauch den Hut des Scheuchs erblickt.
»Hurra!« schrien alle vier wie aus einem Munde.
Bald entdeckten sie auch den Scheuch, der in seltsamer Haltung zwischen den Sträuchern hing. Er war naß und zerzaust und erwiderte weder den Gruß noch die Fragen der Gefährten. Das Wasser hatte ihm Mund, Augen und Ohren weggewaschen. Vom prächtigen Spazierstock, den die Zwinkerer ihm geschenkt hatten, war keine Spur zu sehen. Das Wasser hatte ihn wahrscheinlich fortgetragen.
Die Freunde zogen den Scheuch ans sandige Ufer, schütteten das Stroh aus ihm aus und legten es in die Sonne zum Trocknen. Sein Kleid und seinen Hut hängten sie an einem Strauch auf, und seinen Kopf ließen sie mitsamt der Kleiefüllung trocknen, denn Elli wagte es nicht, das kostbare Gehirn herauszunehmen.
Als das Stroh wieder trocken war, stopften sie den Scheuch erneut damit aus und setzten seinen Kopf auf den alten Platz. Elli nahm aus ihrem Gürtel eine Blechdose mit Pinsel und Farben, die sie sich in der Smaragdenstadt beschafft hatte.
Zunächst malte sie dem Scheuch das rechte Auge auf, das ihr freundlich zuzuzwinkern begann. Dann malte sie das linke und dann die Ohren und dann den Mund. Noch ehe dieser fertig war, hub der lustige Scheuch zu singen an, wodurch er das Mädchen bei der Arbeit störte:
»O-ho-ho-ho! Elli hat mich schon wieder gerettet! O-ho-ho-ho, ich bin wieder bei Elli!«
Der Scheuch sang und tänzelte, denn er hatte keine Angst, daß ihn jemand von seinen Untertanen hier sehen könnte, war es doch ein völlig ödes Land, in dem sie sich befanden.
DER LÖWE WIRD ZUM KÖNIG DER TIERE
Nachdem sich die Wanderer von den Strapazen etwas erholt hatten, setzten sie ihren Weg fort. Je weiter sie sich vom Fluß entfernten, desto freundlicher wurde das Land. Sie gingen durch schattige Haine und über grüne Wiesen und kamen nach zwei Tagen in einen großen Wald.
»Wie herrlich!« rief der Löwe aus. »Solch jungfräuliche Wälder habe ich noch nie gesehen. In meiner Heimat ist der Wald lange nicht so schön!«
»Mir ist es zu düster hier«, bemerkte der Scheuch.
»Aber nein«, entgegnete der Löwe. »Ist es nicht eine Wonne, über den weichen Teppich aus trockenen Blättern zu gehen? Und wie dicht das grüne Moos von den Bäumen herabhängt! Ich möchte für immer hier bleiben!«
»In diesem Wald gibt es bestimmt wilde Tiere«, sagte Elli.
»Es würde mich auch wundern, wenn ein solch herrlicher Ort unbewohnt wäre«, erwiderte der Löwe.
Wie zur Bekräftigung seiner Worte hallte dumpfes Gebrüll aus dem Gehölz. Elli erschrak, doch der Löwe beruhigte sie:
»Unter meinem Schutz kann dir nichts geschehen. Hast du etwa vergessen, daß Goodwin mir Mut gegeben hat?«
Ein ausgetretener Pfad führte die Wanderer auf eine große Lichtung, auf der sich Tausende Tiere versammelt hatten. Da waren Elefanten und Bären, Tiger und Wölfe, Füchse und viele andere Bewohner des Waldes zu sehen. Die vordersten starrten neugierig den Löwen an, und im Nu verbreitete sich die Kunde von seiner Ankunft über die ganze Lichtung.
Lärm und Gebrüll verstummten, und ein mächtiger Tiger trat vor und verneigte sich tief vor dem Löwen:
»Sei willkommen, König der Tiere! Du bist zur rechten Zeit gekommen, um unseren Feind zu vernichten und den Bewohnern dieses Waldes Frieden zu schenken.«
»Wer ist euer Feind?« fragte der Löwe.
»In unserem Wald ist ein schreckliches Ungeheuer aufgetaucht. Es sieht wie eine Spinne aus und ist doppelt so groß wie ein Elefant. Wenn es durch den Wald geht, hinterläßt es eine breite Spur aus umgestürzten Bäumen. Wer immer ihm in den Weg kommt, den packt es mit seinen Vordertatzen und saugt ihm das Blut aus. Wir haben uns versammelt, um zu beraten, wie wir uns von ihm befreien könnten.«
Der Löwe überlegte.
»Gibt es Löwen in eurem Wald?« fragte er.
»Zu unserem großen Bedauern keinen einzigen.«
»Wenn ich euren Feind töte, werdet ihr mich als König anerkennen und mir gehorchen?«
»Oh, mit Vergnügen, mit größtem Vergnügen!« brüllten die Tiere im Chor.
»Ich geh mich schlagen«, erklärte der Löwe. »Schütz meine Freunde, solange ich weg bin. Wo befindet sich das Ungeheuer?«
Der Tiger wies ihm die Richtung. »Geh diesen Pfad entlang bis zu den großen Eichen. Dort verdaut die Spinne gerade einen Büffel, den sie am Morgen gefressen hat.«
Der Löwe ging in die genannte Richtung und kam an eine kleine Lichtung, die von umgestürzten Bäumen umgeben war. Die Spinne war noch gräßlicher anzusehen als das zwölffüßige Ungetüm Goodwins. Der Löwe betrachtete voller Abscheu die riesige Spinne, deren mächtige Pratzen mit schrecklichen Krallen versehen waren. Das Tier sah ungeheuer stark aus und hatte einen langen dünnen Hals.
›Das ist wohl seine schwächste Stelle‹, dachte der Löwe und beschloß, sich auf das schlafende Ungeheuer zu stürzen.
Mit einem mächtigen Satz sprang er auf den Rücken der Spinne und riß ihr, noch ehe sie aus dem Schlaf erwachte, mit einem Prankenhieb den Hals entzwei, worauf er sofort zurücksprang. Der Kopf des Ungeheuers rollte zur Seite, während der Rumpf mit den Krallen die Erde aufwühlte und dann reglos liegenblieb.
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