Nur Elli schwieg und gedachte sehnsüchtig ihrer Heimat.
Schließlich wurde auch sie zu Goodwin gerufen.
»Nun, mein Kind, ich glaube jetzt zu wissen, wie wir beide nach Kansas kommen.«
»Ihr werdet mich also begleiten?« fragte Elli verwundert.
»Unbedingt«, erwiderte der ehemalige Zauberer. »Offen gestanden hab ich das Einsiedlerleben und die ewige Furcht vor der Entlarvung schon satt. Ich will lieber nach Kansas zurückkehren und mich in einem Zirkus produzieren.«
»Ach, wie ich mich freue!« rief Elli und klatschte in die Hände. »Wann brechen wir auf?«
»Das geht nicht so schnell, mein Kind. Dieses Land kann man nur in der Luft verlassen. Hat uns nicht beide der Sturm hergebracht – mich im Ballon und dich im Häuschen? Mein Ballon ist da, ich hab ihn all diese Jahre aufbewahrt. Nur an manchen Stellen werde ich ihn flicken müssen. Und das leichte Gas, den Wasserstoff zum Füllen des Ballons, werd ich mir schon verschaffen.«
Die Reparatur des Ballons dauerte mehrere Tage. Als Elli ihren Freunden die bevorstehende Trennung ankündigte, wurden diese sehr traurig.
Goodwin ließ die Bewohner der Stadt wissen, daß er verreise, um seinen alten Freund und großen Zauberer, den Sonnenball, zu besuchen, den er schon viele Jahre nicht gesehen hatte. Das Volk versammelte sich auf dem Platz vor dem Schloß, Goodwin schaltete den Wasserstoffapparat ein, und der Ballon füllte sich schnell mit dem Gas. Als es soweit war, schwang sich Goodwin vor den Augen der entsetzten und begeisterten Menge in den Korb und sagte:
»Auf Wiedersehn, Freunde!«
Die Leute riefen »Hurra« und warfen ihre grünen Mützen in die Luft.
»Wir haben viele Jahre in Frieden und Eintracht gelebt, und es tut mir leid, von euch zu scheiden«, fuhr Goodwin fort und wischte sich eine Träne aus dem Auge. In der Menge hörte man Seufzer. »Aber mein Freund, der Sonnenball, will, daß ich ihn besuche, und ich muß es tun, weil er ein mächtigerer Zauberer ist als ich. Gedenkt meiner, aber seid nicht allzu traurig, denn Kummer schadet der Verdauung. Befolgt meine Gesetze und nehmt die Brillen nicht ab, denn das könnte euch viel Unglück bringen. Zu eurem Herrscher bestimme ich an meiner Stelle einen ehrwürdigen Herrn, den Weisen Scheuch.«
Der verblüffte Strohmann trat, auf seinen prächtigen Stock gestützt, vor und lüftete den Hut. Der melodische Klang der Schellen machte auf die Menge einen großen Eindruck, denn in der Smaragdenstadt war es nicht Brauch, Schellen an den Hüten zu tragen. Stürmisch begrüßten die Versammelten den neuen Herrscher und gelobten ihm ewige Treue.
Goodwin rief Elli, die sich herzlich von ihren Freunden verabschiedete, zu:
»Steig schnell in den Korb. Der Ballon ist startklar.«

Zum letztenmal küßte Elli den mächtigen Löwen auf die Schnauze, daß diesem vor Rührung große Tränen aus den Augen rannen. Er war so ergriffen, daß er vergaß, sie mit dem Ende seines Schwanzes abzuwischen. Dann drückten der Scheuch und der Eiserne Holzfäller Elli liebevoll die Hand, und Totoschka versicherte dem Löwen zum Abschied, er werde ihn niemals vergessen und allen Löwen, denen er in Kansas begegnen würde, einen Gruß von ihm bestellen.
In diesem Augenblick erhob sich ein heftiger Wind.
»Elli, beeil dich!« schrie der Zauberer aufgeregt, als er gewahrte, wie das Seil, das den Ballon hielt, sich spannte und zu reißen drohte.
Kaum hatte er’s gesagt, da platzte das Seil, und der Ballon strebte zum Himmel hinauf.
»Wartet doch, wartet!« schrie Elli, verzweifelt die Hände ringend. »Nehmt mich mit!«
Goodwin aber konnte gegen den Sturm nichts ausrichten, der den Ballon erfaßt hatte und mit unwiderstehlicher Gewalt forttrug.
»Leb wohl, mein Kind!« drang seine Stimme kaum hörbar an ihr Ohr, und schon verschwand der Ballon in den rasch dahinsegelnden Wolken.
Die Bewohner der Smaragdenstadt starrten noch lange zum Himmel hinauf und gingen dann auseinander.
Am nächsten Tag trat eine vollständige Sonnenfinsternis ein, die sich die Bürger der Smaragdenstadt damit erklärten, daß Goodwin bei seinem Niedergang auf dem Sonnenball diesen verstellte.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde, daß der ehemalige Herrscher der Smaragdenstadt nun auf der Sonne lebe. Das Volk gedachte Goodwins noch lange, war aber nicht sehr betrübt, da es doch einen neuen Herrscher hatte, den Weisen Scheuch, der so viel Gehirn besaß, daß es in seinem Kopf keinen Platz fand und als Näh- und Stecknadeln aus ihm hervorstach.
Die Einwohner der Smaragdenstadt waren mächtig stolz auf ihren Herrscher.
»Zeigt uns eine andere Stadt auf der Welt, deren Herrscher mit Stroh ausgestopft wäre!« sagten sie.
Die arme Elli aber, die im Lande Goodwins geblieben war, saß weinend im Schloß. Sie hatte alle Hoffnung, in die Heimat zurückzukehren, aufgegeben.
Elli weinte bittere Tränen, als der Eiserne Holzfäller schweren Schrittes eintrat.
»Hab ich dich gestört?« fragte er leise. »Ich begreife, daß du dich jetzt nicht mit mir abgeben kannst, wo du selbst so viel Kummer hast. Und doch kann ich nicht anders. Ich muß um Goodwin weinen, und es ist außer dir niemand da, der mir die Tränen abwischen könnte. Der Löwe ist mit sich beschäftigt, er sitzt im Hinterhof und heult, und den Scheuch kann ich mit solchen Kleinigkeiten nicht belästigen, wo er doch der Herrscher des Landes ist…«
»Du Ärmster!…«
Elli stand auf und trocknete dem Holzfäller mit einem Handtuch sorgfältig die Tränen. Als er sich ausgeweint hatte, schmierte er sich mit dem Öl aus der kostbaren Kanne ein, die die Zwinkerer ihm geschenkt hatten und die er immer im Gürtel trug.
In der Nacht hatte Elli einen Traum: Ein riesiger Vogel trug sie hoch über die Steppe von Kansas, und in der Ferne war das Haus ihrer Eltern zu sehen. Sie erwachte mit einem Freudenschrei und konnte vor Enttäuschung nicht wieder einschlafen.
Am nächsten Morgen versammelten sich die Gefährten im Thronsaal, um über ihre Zukunft zu sprechen. Der neue Herrscher saß majestätisch auf seinem Marmorthron, vor dem die anderen respektvoll standen.
Als der Scheuch Herrscher wurde, verwirklichte er vor allen Dingen die Träume, die er lange gehegt hatte. Er ließ sich ein grünes Samtkleid und einen neuen Hut anfertigen, an dessen Krempe er die Silberschellen vom alten Hut anzunähen befahl. Seine Füße schmückten blankgeputzte Stiefel aus feinstem Leder.

»Wir werden jetzt herrlich leben«, erklärte der neue Herrscher. »Das Schloß und die ganze Smaragdenstadt gehören uns, und wenn ich daran denke, daß ich noch unlängst die Krähen auf dem Felde verscheuchen mußte, heute aber der Herrscher der Smaragdenstadt bin, so muß ich euch aufrichtig sagen, daß ich mich über mein Schicksal nicht beklagen kann…«
Totoschka wies den überheblich gewordenen Scheuch in die Schranken:
»Sag mal, wem hast du das alles eigentlich zu verdanken?«
»Elli natürlich«, erwiderte der Scheuch beschämt. »Ohne sie würde ich noch heute auf dem Pfahl sitzen…«
»Wenn dich die Stürme inzwischen nicht zerrissen und die Krähen nicht zerhackt hätten«, fügte der Holzfäller hinzu. »Ich selber würde im wilden Walde rosten… Elli hat viel für uns getan. Ihr hab ich mein Herz zu verdanken, und das war doch mein sehnlichster Wunsch!«
»Von mir schon gar nicht zu reden«, sagte der Löwe. »Ich bin jetzt mutiger als alle anderen Tiere auf der Welt. Ich wünsche mir, daß jetzt Menschenfresser oder Säbelzahntiger das Schloß überfielen, um euch zeigen zu können, wie ich mit ihnen fertig werde!«
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