»Hast du etwas über den Einsatz des Rettungsteams herausgefunden?«
»Nur Fragmente. Es gibt Berichte, nach denen in dieser Gegend Aufstände stattgefunden haben. Der Zeitpunkt stimmt ungefähr mit der angeblichen Rettungsaktion überein, aber ich muss gestehen, dass ich langsam beginne, deine Befürchtungen zu teilen.«
»Inwiefern?«
»Dort scheint etwas vorgefallen zu sein, das alle Beteiligten vertuschen wollen. Aber egal wie man es auch dreht und wendet, ich werde nie etwas erfahren, wenn ich mich nicht selbst dorthin bemühe.«
»Da hast du wohl Recht, aber meine Einstellung zu diesem Unternehmen kennst du ja. Ich halte es nach wie vor für Irrsinn.«
»Was hat denn deine Recherche ergeben«, fragte ich, um möglichst schnell das Thema zu wechseln. Sarah griff in ihre Handtasche und zog einen dicken Packen Computerausdrucke hervor. Sie schien ihre Arbeit wie immer mit Perfektion erledigt zu haben. »Du solltest wissen, dass es sich bei den Likouala-Sümpfen, in denen Mokele angeblich leben soll, um ein Gebiet handelt, das so groß ist wie Großbritannien. Achtzig Prozent davon sind unerforscht, so die offizielle Regierungserklärung«, erläuterte sie, während sie durch die Papiere blätterte. »Es ist einer der letzten weißen Flecken auf unseren Landkarten. Die Legende von Mokele reicht bis zu den Anfängen der Erforschung des Kongo zurück. Zum ersten Mal wurde er in den Berichten des französischen Missionars Abbe Proyart erwähnt, 1776 war das. Danach noch etliche Male von Forschern, hauptsächlich Deutschen wie Hans Schomburg, Carl Hagenbeck und Joseph Menges, die die Gegend durchquerten. Ich habe dir alles ausgedruckt, damit du dich im Flugzeug nicht langweilst. In den Zwanzigerjahren wurden einige Expeditionen gestartet, die ausschließlich dem Ziel dienten, Mokele zu finden. Doch wirklich gesehen hat ihn niemand. Die ganzen Berichte beruhen auf den Aussagen von ortsansässigen Pygmäen. Man hat ihnen Bilder verschiedener großer Tiere vorgelegt, über die sie heftig diskutierten. Doch so richtig in Fahrt kamen sie erst, als man ihnen einen Bildband mit Sauriern vorlegte. Beim Anblick einer Illustration vonParasaurolophus waren sich alle einig. Das war Mokele m'Bembe. Immer wieder wurde es als riesiges Monster beschrieben, halb Nashorn, halb Drache, mit einer Körperlänge von fünf bis zehn Metern.«
Ich nickte. »Die haben wahrscheinlich nur den Kopf oder Teile des Oberkörpers gesehen und das Horn als Teil eines Nashornschädels identifiziert. Vermutlich verlässt das Tier so selten das Wasser, dass man nie den gesamten Körper zu Gesicht bekommt. Vielleicht haben sie auch Jungtiere beobachtet.«
»Dann würden die Spuren, die man gefunden hat, von ihnen stammen. Man fand Trittsiegel mit einem
Durchmesser von neunzig Zentimetern und einem Abstand von zwei Metern, was auf ein relativ kleines Tier hindeutet. Wie dem auch sei, eine ganze Zeit wurde es dann still um den legendären Kongosaurier, bis die Amerikaner und Japaner Interesse zeigten und eigene Expeditionen organisierten. Zwischen 1972 und 1992 starteten nicht weniger als zehn Teams in diese Region, die jedoch nicht mehr mitbrachten als einige seltsame Fotos und einen verwackelten Film. Das war's. Ich habe das Gefühl, da wurde viel Zeit und Geld verpulvert.«
Ich strich mir übers Kinn, als ich die Papiere überflog. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Alle Quellen berichten übereinstimmend, seltsame Geräusche gehört zu haben. Geräusche, die keinem anderen Großtier dieser Region zuzuordnen sind. Man fand Fußspuren und Schneisen im Wald, die nur von einem riesigen Lebewesen stammen konnten. Alles in allem sehr mysteriös. Hätte ich nicht den Film bei Mrs. Palmbridge gesehen, ich würde glauben, einem gewaltigen Betrug auf der Spur zu sein. Aber ich habe ihn gesehen, und die Bilder lassen keinen Zweifel. Ich hab's oft versucht, glaub mir. Hast du sonst noch etwas herausgefunden?«
»Nichts über Mokele.«
Ich trank enttäuscht den letzten Tropfen aus meinem Champagnerglas. »Schade.«
»Es gibt aber etwas Interessantes über den See zu berichten.«
Sie sah mich mit ihren grünen Augen an.
»Erzähl.«
»Nicht hier.«
Ich blickte erstaunt in ihr Gesicht und sah ein schelmisches Grinsen. »Was soll das heißen: nicht hier? Sind die Informationen top secret? Werden wir etwa von Herren mit schwarzen Sonnenbrillen beobachtet?«
»Das nicht gerade.«
»Aber was ist es dann? Ich verstehe nicht ...«
»Brauchst du auch nicht. Lass dich einfach überraschen. Ah, ich glaube, da kommt unsere Vorspeise.«
G egen elf zahlte ich. Wir verließen das Restaurant und stiegen in das Taxi, das bereits seit mehreren Minuten auf uns wartete. Die Fahrt in Sarahs Wohnung im Londoner Stadtteil Bethnal Green, in der Nähe des Victoria Parks, dauerte etwa zwanzig Minuten. Schon während der Fahrt hatte ich das Gefühl, dass Sarah mich nicht nur mit Informationen versorgen wollte. Immer wieder kam es zu zarten, beinahe zufälligen Berührungen, die für sich genommen vielleicht nichts bedeutet hätten. Aber mit der Art, wie sie dabei ihre Beine übereinander schlug und mich ansah, sprachen sie eine eindeutige Sprache. Es war ganz klar, wie sich der Abend in ihren Augen entwickeln sollte, und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Unter anderen Umständen wäre ich mit einer solchen Frau an meiner Seite der glücklichste Mann der Welt gewesen. Aber an diesem Abend war es für mich die reine Qual. Als wir ankamen und ich den Taxifahrer bezahlt hatte, war ich froh, der Enge des Autos entfliehen und etwas Abstand zwischen mich und Sarahs Avancen bringen zu können.
Ich streckte mich und blickte nach oben. Die schneegefüllten Wolken hatten einem sternenklaren Nacht-himmel Platz gemacht. Es war windstill. Frost lag in der Luft. In diesem Moment dachte ich, wie seltsam es sein mochte, morgen aus dem Flugzeug zu steigen und die feuchte, dreißig Grad warme Luft auf meiner Haut zu spüren. Es kam mir vor, als würde ich zu einem fremden Planeten fliegen.
»Na, schwere Gedanken«, sagte Sarah, während sie mir leicht ihre Hand auf die Schulter legte.
»Mir ist kalt«, sagte ich.
»Lass uns hochgehen. Ich werde dich schon wieder aufwärmen«, grinste sie und schloss die Tür auf. Während sie vor mir die Treppe hinaufstieg, konnte ich den Blick nicht von ihren Rundungen abwenden. Sarahs geschmeidige Bewegungen hatten eine geradezu magische Anziehungskraft. Ich musste grinsen. Das jahrtausendealte genetische Programm funktionierte tadellos. Und das Verblüffende daran war, es fühlte sich fantastisch an. Nicht zum ersten Mal kam ich mir vor wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden durchs Leben getragen wird. Gefesselt, aber mit einem Lächeln im Gesicht.
Als wir an ihrer Tür im obersten Stock des Viktorianischen Bürgerhauses anlangten, beschloss ich, noch eine Weile so zu tun, als wären die Fäden nicht vorhanden. Das verschaffte mir wenigstens für den Moment die Illusion, ich wäre Herr der Lage.
»Ich mach es uns schnell etwas wärmer«, sagte sie und eilte durch die Zimmer, um überall die Gasheizung aufzudrehen.
Ich stand unentschlossen in der Wohnungstür. »Was ist denn? Komm rein und mach es dir bequem. Du kennst dich doch hier aus«, rief mir Sarah über die Schulter hinweg zu. »Ich muss noch schnell alle Ventile öffnen. Du kennst ja diese alten Gasetagenheizungen. Umständlich, aber dafür werden sie schnell heiß.«
»Hmm«, nickte ich.
Während ich ins Wohnzimmer schlenderte und mich umsah, kam mir deutlich zu Bewusstsein, dass Sarah für alles, was sich innerhalb dieser Wände befand, hart gearbeitet hatte. Sie war nicht mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen wie ich, sondern hatte von Anfang an hart arbeiten müssen. Umso überraschender war es, dass ihre Wohnung viel gemütlicher und stilvoller eingerichtet war als meine. Da standen Polstermöbel, die sie bei irgendeinem Trödler in der Portobello Road gekauft hatte, neben Buchregalen und Kleiderschränken aus preiswerten Designerläden in Not-ting Hill. Ich sah indische Kerzenhalter, eine tibetanische Gebetsmühle, Kunstdrucke von Kandinsky und Chagall. Ein wildes Sammelsurium. Aber merkwürdig, es passte alles zusammen, fügte sich zu einem harmonischen Ganzen, das Leben und Wärme ausstrahlte.
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