Als Tess das bejahte, machte Ms. Norville große Augen und blies die Backen auf. »Dann bin ich froh, dass Sie heil angekommen sind. Meiner bescheidenen Meinung nach ist die 84 der schlimmste Highway Amerikas. Außerdem ein ziemlicher Umweg. Aber die Rückfahrt lässt sich optimieren, wenn das Internet recht hat und Sie in Stoke Village leben.«
Tess bestätigte, dass das zutraf, obwohl sie nicht recht wusste, ob es ihr gefiel, dass Fremde - selbst eine freundliche Bibliothekarin - wussten, wo sie ihr müdes Haupt zur Ruhe bettete. Aber es hatte keinen Zweck, sich darüber zu beschweren; heutzutage stand alles im Internet.
»Ich kann Ihnen zehn Meilen sparen«, sagte Ms. Norville, als sie die Treppe zur Bibliothek hinaufstiegen. »Haben Sie ein Navi? Das ist besser als eine auf einen alten Umschlag gekritzelte Wegbeschreibung. Wundervolle Dinger.«
Tess, die die Ausstattung ihres Ford Expedition tatsächlich um ein Navi ergänzt hatte (es nannte sich TomTom und wurde in die Buchse des Zigarettenanzünders eingesteckt), sagte, zehn auf der Rückfahrt eingesparte Meilen wären sehr nett.
»Lieber geradeaus durch Robin Hoods Scheune als ganz außen herum«, sagte Ms. Norville mit einem leichten Klaps auf Tess’ Rücken. »Hab ich recht oder nicht?«
»Absolut«, bestätigte Tess, und damit war ihr Schicksal entschieden - einfach so. Aber sie hatte Abkürzungen natürlich nie widerstehen können.
4
Les affaires du livre bestanden im Allgemeinen aus vier klar definierten Akten, und Tess’ Auftritt bei der Monatsversammlung von Books & Brown Baggers war geradezu prototypisch. Die einzige Abweichung von der Norm war Ramona Norvilles Einführung, die ungewöhnlich kurz und bündig war. Sie brachte keinen entmutigenden Stapel Karteikarten mit aufs Podium, hielt es nicht für nötig, Tess’ Kindheit auf einer Farm in Nebraska zu schildern, und machte sich nicht die Mühe, ein Bukett aus lobenden Besprechungen der Kriminalromane über den Strickclub Willow Grove zu präsentieren. (Das war gut, denn sie wurden selten besprochen, und wenn es dazu kam, wurde meistens auch Miss Marple erwähnt, nicht immer in vorteilhafter Weise.) Ms. Norville sagte einfach, die Bücher seien ungeheuer populär (eine verzeihliche Übertreibung) und es sei äußerst großzügig von der Verfasserin, dass sie ihre Zeit so kurzfristig geopfert habe (obgleich bei fünfzehnhundert Dollar Honorar kaum von einem Opfer die Rede sein konnte). Dann überließ sie das Podium Tess unter dem enthusiastischen Beifall der etwa vierhundert Personen in dem kleinen, aber ausreichend großen Vortragssaal der Bibliothek. Die meisten waren Ladys von der Sorte, die nie ohne Hut ausgingen.
Die Einführung hatte jedoch mehr von einem Zwischenspiel an sich. Der erste Akt war der Empfang um elf Uhr, bei dem die besser zahlenden Gäste bei Käse, Crackern und scheußlichem Kaffee Tess persönlich kennenlernen konnten (bei Abendveranstaltungen gab es Plastikgläser mit scheußlichem Wein). Manche baten um Autogramme; viel mehr baten um Fotos, die sie im Allgemeinen mit ihren Handys machten. Sie wurde gefragt, woher sie ihre Ideen nehme, und gab die erwarteten höflichen und humorvollen Antworten. Ein halbes Dutzend Leute fragte sie, wie man einen Agenten bekomme, wobei das Glitzern in ihren Augen suggerierte, sie hätten die zusätzlichen zwanzig Dollar eigens dafür gezahlt, um diese Frage stellen zu können. Tess sagte, man schreibe Briefe, bis einer der Hungrigeren sich bereiterkläre, sich das eingesandte Zeug anzusehen. Das war nicht die ganze Wahrheit - in Bezug auf Agenten gab es keine ganze Wahrheit -, aber es kam ihr immerhin nahe.
Der zweite Akt war der Vortrag selbst, der ungefähr eine Dreiviertelstunde dauerte. Er bestand im Wesentlichen aus Anekdoten (keine zu persönlich) und der Schilderung, wie sie ihre Storys ausarbeitete (von hinten nach vorn). Dabei war es wichtig, mindestens dreimal den Titel ihres letzten Romans zu erwähnen, der in diesem Herbst Der Strickclub Willow Grove und der Speläologe lautete (für alle, die das Fremdwort nicht kannten, übersetzte sie es mit »Höhlenforscher«).
Der dritte Akt war die Frageperiode, in der sie gefragt wurde, woher sie ihre Ideen habe (humorvolle, vage Antworten), ob ihre Figuren aus dem realen Leben stammten (»meine Tanten«) und wie man einen Agenten für seine Arbeit interessiere. Heute wurde sie auch gefragt, wo sie ihren Haargummi gekauft habe (JCPenney, eine Antwort, die ihr unerklärlichen Beifall einbrachte).
Der letzte Akt war die Signierstunde, in der sie pflichtbewusst Bitten erfüllte: Geburtstagsglückwünsche, Glückwünsche zu Hochzeitstagen, Für Janet, einen Fan aller meiner Bücher und Für Leah - ho f fentlich sehen wir uns im Sommer alle am Lake Toxaway wieder! (ein etwas seltsamer Wunsch, weil Tess - anders als vermutlich die Autogrammjägerin - noch nie dort gewesen war).
Als alle Bücher signiert und die letzten Trödler mit weiteren Handyfotos zufriedengestellt waren, nahm Ramona Norville Tess auf eine Tasse echten Kaffee mit in ihr Büro mit. Ms. Norville trank ihren schwarz, was Tess nicht im Geringsten wunderte. Ihre Gastgeberin war eine Schwarzer-Kaffee-Powerfrau, wenn jemals eine über die Erde gestiefelt war (an ihrem freien Tag vermutlich in Doc Martens). Das einzig Überraschende in ihrem Büro war das gerahmte signierte Foto an der Wand. Das Gesicht kam Tess bekannt vor, und nach kurzem Nachdenken kam sie auch auf den Namen.
»Richard Widmark?«
Ms. Norville lachte auf verlegene, aber zugleich erfreute Art. »Mein Lieblingsschauspieler. Als Mädchen war ich ein bisschen in ihn verknallt, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Dieses Foto habe ich mir zehn Jahre vor seinem Tod signieren lassen. Er war schon damals ziemlich alt, aber das ist eine echte Unterschrift, kein Stempel. Das gehört Ihnen.« Einen verrückten Augenblick lang dachte Tess, Ms. Norville meine das signierte Foto. Dann sah sie den Umschlag in ihren dicken Fingern. Es war ein Fensterumschlag, damit man sehen konnte, dass er einen Scheck enthielt.
»Danke«, sagte Tess und nahm ihn.
»Nichts zu danken. Sie haben sich jeden Cent verdient.«
Tess widersprach nicht.
»Nun zu der Abkürzung.«
Tess beugte sich aufmerksam nach vorn. In einem ihrer Strickclub-Krimis hatte Doreen Marquis gesagt: Die beiden besten Dinge im Leben sind warme Croissants und ein schneller Weg nach Hause. Das war so eine Stelle, wo die Schriftstellerin die eigenen liebsten Überzeugungen dazu benutzte, ihre Erzählung lebendiger zu machen.
»Können Sie auf Ihrem Navi Kreuzungen eingeben?«
»Ja, Tom ist sehr clever.«
Ms. Norville lächelte. »Dann geben Sie Stagg Road und U S 47 ein. Die Stagg Road wird heutzutage kaum mehr befahren - ist seit dieser verdammten 84 fast vergessen -, hat aber landschaftlich ihren Reiz. Sie bummeln darauf … oh, ungefähr sechzehn Meilen weit. Geflickter Asphalt, aber nicht allzu holperig, jedenfalls nicht beim letzten Mal, als ich sie gefahren bin, und das war im Frühjahr, wenn die Frostaufbrüche am schlimmsten sind. Zumindest ist das meine Erfahrung.«
»Meine auch«, sagte Tess.
»Wenn Sie die 47 erreichen, sehen Sie einen Wegweiser zur I-84, aber Sie brauchen nur ungefähr zwölf Meilen weit auf der Interstate zu bleiben, das ist das Schöne daran. Und Sie sparen Tonnen von Zeit und Nerven.«
»Auch das ist das Schöne daran«, sagte Tess, und sie lachten beim Kaffee: zwei gleichgesinnte Frauen, über denen der lächelnde Richard Widmark wachte. Der verlassene Laden mit den abgebauten Zapfsäulen und dem tickenden Schild war noch neunzig Minuten entfernt, in der Zukunft versteckt wie eine Schlange in ihrem Loch. Und natürlich der Durchlass unter der Straße.
5
Tess hatte nicht nur ein Navi; sie hatte einen Aufpreis für ein individuell angepasstes gezahlt. Sie hatte Spielsachen gern. Nachdem sie die Kreuzung eingegeben hatte (wobei Ramona Norville sich mit über das Display beugte und den Vorgang mit männlichem Interesse beobachtete), dachte das Gerät kurz nach, dann sagte es: »Tess, ich berechne deine Route.«
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