Aus dem Omaha World-Herald , 14. April 1930
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Tess akzeptierte jährlich zwölf Vorträge gegen Honorar, wenn sie sie bekommen konnte. Bei zwölfhundert Dollar pro Auftritt kamen so über vierzehntausend Dollar zusammen. Das war ihr Pensionsfonds. Auch nach zehn Büchern war sie mit dem Strickclub Willow Grove durchaus noch zufrieden, aber sie bildete sich nicht etwa ein, über ihn schreiben zu können, bis sie in den Siebzigern war. Was würde sie auf dem Boden des Fasses finden, wenn sie das tat? Der Strickclub Willow Grove fährt nach Terre Haute oder Der Strickclub Willow Grove besucht die Internationale Raumstation? Nein. Nicht mal wenn die Literaturzirkel für Frauen, die ihre Hauptstütze waren, sie lasen (was sie vermutlich tun würden). Nein.
Also war sie ein braves kleines Eichhörnchen, das vom Ertrag seiner Bücher gut lebte … aber auch Bucheckern für den Winter sammelte. Im vergangenen Jahrzehnt hatte sie jedes Jahr zwischen zwölf- und sechzehntausend Dollar in ihren Geldmarktfonds eingezahlt. Wegen der Kursschwankungen an der Börse war die Gesamtsumme nicht so hoch, wie sie sich gewünscht hätte, aber sie sagte sich, wenn sie weiterschuftete, werde sie vermutlich zurechtkommen; sie war die kleine Lokomotive, die es schaffen konnte. Und sie trat mindestens dreimal im Jahr gratis auf, um ihr Gewissen zu beschwichtigen. Diese oft lästige innere Stimme hätte ihr nicht zusetzen dürfen, nur weil sie für ehrliche Arbeit ehrliches Geld nahm, aber das tat sie manchmal. Wahrscheinlich
Außer einem Mindesthonorar von zwölfhundert Dollar musste eine weitere Bedingung erfüllt sein: Sie musste den Ort der Lesung mit dem Auto erreichen können, ohne auf der Hin- und Rückfahrt mehr als einmal übernachten zu müssen. Das bedeutete, dass sie selten südlicher als Richmond oder westlicher als Cleveland auftrat. Eine Nacht in einem Motel war ermüdend, aber hinnehmbar; nach zweien war sie eine Woche lang zu nichts zu gebrauchen. Und Fritzy, ihr Kater, hasste es, allein zu Hause zu sein. Das machte er ihr klar, indem er sich auf der Treppe zwischen ihre Füße schlängelte und auf ihrem Schoß sitzend häufig wahllos seine Krallen gebrauchte, wenn sie wieder heimkam. Und obwohl Patsy McClain von nebenan ihn bereitwillig fütterte, fraß er nie viel, bis Tess wieder zu Hause war.
Es lag nicht daran, dass sie Flugangst hatte oder es ihr widerstrebte, den Organisationen, die sie engagierten, ihre Reisekosten in Rechnung zu stellen, genau wie sie ihnen ihre Motelzimmer berechnete (stets nett, nie elegant). Sie hasste nur alles: das Gedränge, die Demütigung, ihre Schuhe ausziehen und die Taschen ausleeren zu müssen, die Art, wie die Airlines heute für alles kassierten, was früher umsonst gewesen war, die Verspätungen … und die unentrinnbare Tatsache, dass man anderen ausgeliefert war. Sobald man die endlosen Sicherheitskontrollen passiert hatte und an Bord gehen durfte, musste man seinen kostbarsten Besitz - sein Leben - in die Hände fremder Leute legen.
Natürlich traf das auch auf die Turnpikes und Interstates zu, die sie fast ausschließlich benutzte: Ein Betrunkener konnte ins Schleudern geraten, über die Mittelleitplanke fliegen und ihr Leben durch einen Frontalzusammenstoß beenden (während er überleben würde; das taten die Betrunkenen Illusion , alles unter Kontrolle zu haben. Und sie fuhr gern Auto. Das war beruhigend. Ihre besten Ideen hatte sie, wenn sie mit Tempomat und ausgeschaltetem Radio fuhr.
»Ich wette, du warst in deiner letzten Inkarnation ein Fernfahrer«, hatte Patsy McClain einmal gesagt.
Tess gefiel die Vorstellung von einem Leben, in dem sie keine zierliche Frau mit elfenhaftem Gesicht und schüchternem Lächeln war, die harmlose Kriminalromane schrieb, sondern ein großer Kerl mit breitkrempigem Hut, der ein sonnenverbranntes Gesicht mit grauem Dreitagebart beschattete, während er einer Bulldogge als Kühlerfigur über die eine Million Straßen folgte, die das Land kreuz und quer durchzogen. In jenem Leben war es nicht nötig, ihre Kleidung vor öffentlichen Auftritten sorgfältig aufeinander abzustimmen; verblichene Jeans und Stiefel mit Seitenschnallen würden genügen. Sie schrieb gern und hatte nichts dagegen, öffentlich zu sprechen, aber am liebsten fuhr sie Auto. Nach ihrem Auftritt in Chicopee kam ihr das komisch vor … aber nicht auf eine Weise komisch, über die man lachen musste. Nein, überhaupt nicht auf diese Weise komisch.
2
Die Einladung von Books & Brown Baggers entsprach ihren Anforderungen perfekt. Chicopee war kaum sechzig Meilen von Stoke Village entfernt, der Vortrag würde tagsüber stattfinden, und die Drei Bs boten als Honorar nicht nur zwölfhundert, sondern fünfzehnhundert Dollar. Natürlich plus Spesen, aber die würden minimal sein - nicht einmal eine Übernachtung in einem Courtyard Suites oder
»Ich weiß, dass diese Anfrage sehr kurzfristig kommt«, schrieb Ms. Norville in ihrem schmeichlerischen letzten Absatz, »aber in Wikipedia sehe ich, dass Sie im benachbarten Connecticut wohnen, und unsere Leser in Chicopee sind solche Fans der Strickclub-Mädels. Unsere ewige Dankbarkeit sowie das oben erwähnte Honorar wären Ihnen sicher.«
Tess bezweifelte, dass die Dankbarkeit ewig sein würde, und hatte im Oktober schon einen Termin angenommen (die Literary Calvalcade Week in den Hamptons), aber die I-84 würde sie zur I-90 bringen, und von der 90 ging es geradeaus nach Chicopee weiter. Mühelos hin, mühelos zurück; Fritzy würde kaum merken, dass sie fort gewesen war.
Ramona Norville hatte natürlich ihre Mailadresse angegeben, und Tess antwortete sofort und akzeptierte den Termin und das Honorar. Sie präzisierte auch - wie es ihre Gewohnheit war -, dass sie nicht länger als eine Stunde Bücher signieren würde. »Ich habe einen Kater, der mich tyrannisiert, wenn ich nicht zu Hause bin, um ihn abends persönlich zu füttern«, schrieb sie. Außerdem bat sie um nähere Einzelheiten, obwohl sie weitgehend wusste, was von ihr erwartet wurde; sie hatte Erfahrung mit solchen Veranstaltungen, seit sie dreißig geworden war. Trotzdem
Tess dachte auch kurz daran, vorzuschlagen, zweitausend Dollar seien vielleicht angemessener für etwas, das tatsächlich eine Art Nothilfe war, kam aber wieder davon ab. Außerdem bezweifelte sie, ob alle Strickclub-Bücher zusammen (genau ein Dutzend) sich so gut verkauft hatten wie eines von Stephanie Plums Abenteuern. Ob es ihr gefiel oder nicht - und Tess war das im Grund genommen egal -, war sie Ramona Norvilles Plan B. Ein Honoraraufschlag wäre fast Erpressung gewesen. Fünfzehnhundert waren mehr als fair. Als sie dann in dem Durchlass unter der Straße lag und aus geschwollenem Mund und gebrochener Nase Blut hustete, kam ihr das natürlich gar nicht mehr fair vor. Aber wären zweitausend denn fairer gewesen? Oder zwei Millionen?
Ob man Schmerzen und Entsetzen mit einem Preisschild versehen konnte, war eine Frage, mit der die Damen des Strickclubs sich nie befasst hatten. Die Verbrechen, die sie lösten, waren eigentlich nicht mehr als die Idee von Verbrechen. Aber als Tess sich gezwungen sah, darüber nachzudenken, fand sie, die Antwort laute nein. Als sie sich wirklich dazu gezwungen sah, hatte sie das Gefühl, für solch ein Verbrechen sei nur eine Vergeltung denkbar. Sowohl Tom als auch Fritzy stimmte ihr da zu.
3
Ramona Norville erwies sich als breitschultrige, vollbusige, joviale Frau Anfang sechzig mit gerötetem Gesicht, Kurzhaarfrisur und kompromisslosem Händedruck. Sie erwartete Tess vor der Bibliothek - mitten auf dem für den Berühmten Autor des Tages reservierten Parkplatz. Statt Tess einen guten Morgen zu wünschen (es war Viertel vor elf) oder ihr ein Kompliment zu ihren Ohrringen zu machen (tropfenförmige Brillanten, eine Extravaganz, die für ihre wenigen Abendeinladungen oder Vorträge wie heute reserviert blieb), stellte sie eine Männerfrage: War Tess auf der 84 hergekommen?
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