Die Sweetheart Bandits waren in ihrem letzten Versteck aufgefunden worden: Shannon an der Kugel des Thekenmanns gestorben, Henry an einer, die er sich selbst in den Kopf gejagt hatte. Die Toten waren vorläufig nach Elko ins Leichenhaus gebracht worden. Harlan Cotterie würde seine Tochter heimholen, aber mit meinem Sohn wollte er nichts zu schaffen haben. Natürlich nicht. Ich kümmerte mich selbst darum. Henry traf am 18. Dezember mit dem Zug in Hemingford ein, und ich war mit einer schwarzen Leichenkutsche des Bestattungsunternehmens Castings Brothers am Bahnhof. Ich wurde mehrmals photographiert. Man stellte mir Fragen, die ich nicht einmal zu beantworten versuchte. Die Schlagzeilen des World-Herald und des weit bescheideneren Wochenblatts Hemingford Weekly enthielten die Worte TRAUERNDER VATER.
Hätten die Reporter mich jedoch in der Leichenhalle gesehen, als der billige Fichtensarg geöffnet wurde, hätten sie
»Richten Sie ihn her«, wies ich Herbert Castings an, als ich wieder vernünftig reden konnte.
»Mr. James … Sir … die Schäden sind so …«
»Ich sehe, wie schlimm die Schäden sind. Richten Sie ihn her. Und holen Sie ihn aus dieser scheiß Kiste. Legen Sie ihn in den besten Sarg, den Sie haben. Was das kostet, ist mir egal. Ich habe Geld.« Ich beugte mich über ihn und küsste die zerfetzte Wange. Kein Vater sollte seinen Sohn zum letzten Mal küssen müssen, aber wenn irgendein Vater jemals dieses Los verdient hatte, war ich es.
Shannon und Henry wurden beide von der Glory of God Methodist Church in Hemingford aus beigesetzt, Shannon am 22. Dezember und Henry am Heiligabend. Bei Shannon war die Kirche voll, und das Weinen war fast laut genug, um die Mauern zum Beben zu bringen. Das weiß ich, weil ich dort war, zumindest eine Zeit lang. Ich stand unbeachtet ganz hinten und schlich mich nach der Hälfte der Trauerrede von Reverend Thursby hinaus. Rev. Thursby bestattete auch Henry, aber ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass die Trauergemeinde viel kleiner war. Thursby sah nur mich, aber ich war dennoch nicht der einzige Gottesdienstbesucher. Auch Arlette war da und
Ge fällt es dir, wie alles ausgegangen ist, Wil f? War’s das wert?
Zählte man alles zusammen - Trauergottesdienst, Grabmiete, Bestattungsunternehmen und Heimtransport der Leiche -, kostete die Beisetzung der sterblichen Überreste meines Sohnes etwas über 300 Dollar. Die bezahlte ich von meiner Hypothek. Woher hätte ich das Geld sonst nehmen sollen? Nach der Beerdigung fuhr ich heim in mein leeres Haus. Aber zuvor kaufte ich mir eine neue Flasche Whiskey.
1922 hatte noch eine weitere Überraschung parat. Einen Tag nach Weihnachten kam ein gewaltiger Blizzard aus den Rockies herangeröhrt und überfiel uns mit 30 Zentimeter Schnee und Wind in Sturmstärke. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde der Schnee erst zu Schneeregen, dann zu peitschendem Regen. Gegen Mitternacht, als ich in dem düsteren Wohnzimmer saß und meinen pochenden Armstumpf mit kleinen Schlucken Whiskey zu beruhigen versuchte, kam von der Rückseite des Hauses ein gewaltiges Knirschen und Krachen. Das war das Dach, das teilweise einstürzte - genau der Teil, für dessen Ausbesserung die aufgenommene Hypothek unter anderem hätte dienen sollen. Ich hob mein Glas zu einem ironischen Toast und nahm noch einen Schluck. Als kalter Wind um meine Schultern zu wehen begann, stand ich auf, holte meinen Mantel von seinem Haken im Vorraum und zog ihn an. Dann setzte ich mich wieder und trank noch etwas Whiskey. Irgendwann döste ich ein. Gegen drei Uhr weckte mich ein weiteres knirschendes Krachen. Diesmal war es die vordere Hälfte des Stalls, die eingestürzt war. Achelois überlebte auch dieses Mal, und am folgenden Tag holte ich sie
Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags (den ich damit verbrachte, in meinem kalten Wohnzimmer kleine Schlucke Whiskey zu trinken, wobei mir meine überlebende Kuh Gesellschaft leistete) zählte ich das noch übrige Hypothekengeld und erkannte, dass es nicht einmal für eine notdürftige Ausbesserung der Sturmschäden reichen würde. Das störte mich aber nicht besonders, weil ich den Geschmack am Farmerleben verloren hatte, wenngleich der Gedanke, dass die Farrington Company hier einen Schweineschlachthof hinstellen und den Bach verunreinigen würde, mich wieder vor Wut mit den Zähnen knirschen ließ. Vor allem wegen des hohen Preises, den ich dafür gezahlt hatte, dass diese dreimal gottverdammten 40 Hektar nicht in die Hände der Firma gerieten.
Dann wurde mir plötzlich klar, dass dieses Land jetzt mir gehörte, seit Arlette nicht mehr als vermisst galt, sondern offiziell tot war. Also überwand ich zwei Tage später meinen Stolz und stattete Harlan Cotterie einen Besuch ab.
Dem Mann, der auf mein Klopfen die Haustür öffnete, war es weit besser ergangen als mir, aber die Erschütterungen dieses Jahres hatten trotzdem ihren Tribut gefordert. Er hatte abgenommen, er hatte Haare verloren und sein Hemd war verknittert - allerdings nicht so verknittert wie sein Gesicht, und das Hemd ließ sich wenigstens glattbügeln. Statt wie fünfundvierzig sah er wie fünfundsechzig aus.
»Schlag mich nicht«, sagte ich, als ich sah, dass er die Fäuste ballte. »Hör mir erst zu.«
»Ich würde keinen Mann schlagen, der nur eine Hand hat«, sagte er, »aber ich wäre dir dankbar, wenn du es kurz
»Schon in Ordnung«, sagte ich. Ich hatte selbst reichlich abgenommen und zitterte vor Kälte, aber die kalte Luft tat meinem Armstumpf gut - wie auch der unsichtbaren Hand, die an seinem Ende weiterzuexistieren schien. »Ich möchte dir 40 Hektar gutes Land verkaufen, Harl. Die vierzig, die Arlette unbedingt der Farrington Company verkaufen wollte.«
Darüber musste er lächeln, und seine Augen glitzerten in ihren auf einmal tiefen Höhlen. »Du steckst in der Klemme, was? Dein halbes Haus und der halbe Stall sind eingestürzt. Hermie Gordon sagt, dass du jetzt mit einer Kuh zusammenlebst.« Hermie Gordon war der Landbriefträger und ein berüchtigtes Klatschmaul.
Ich nannte einen so niedrigen Preis, dass Harl mich mit offenem Mund und hochgezogenen Augenbrauen anstarrte. Dabei fiel mir ein aus dem sauberen, gut eingerichteten Farmhaus der Cotteries wabernder Geruch auf, der überhaupt nicht herzupassen schien: der Geruch von angebranntem Essen. Offenbar kochte hier nicht Sallie Cotterie. Früher hätte mich so etwas vielleicht interessiert, aber diese Zeiten waren vorbei. Jetzt ging es mir allein darum, die 40 Hektar loszuwerden. Es erschien mir nur angemessen, sie billig zu verkaufen, nachdem sie mich so teuer zu stehen gekommen waren.
»Das sind Cent statt Dollar«, sagte er. Dann unüberhörbar befriedigt: »Arlette würde im Grab rotieren.«
Sie hat mehr getan, als bloß darin zu rotieren, dachte ich.
»Worüber lächelst du, Wilf?«
»Nichts. Abgesehen von einem Punkt mache ich mir nichts mehr aus diesem Land. Aber ich will verhindern, dass die
»Auch wenn du dabei deine Farm verlierst?« Er nickte, als hätte ich eine Frage gestellt. »Ich weiß, dass du eine Hypothek aufgenommen hast. In einer Kleinstadt gibt’s keine Geheimnisse.«
»Auch dann«, bestätigte ich. »Nimm mein Angebot an, Harl. Es wäre verrückt, das nicht zu tun. Dieser Bach, den sie mit Blut und Borsten und Schweinedärmen verunreinigen würden … der ist auch dein Bach.«
»Nein«, sagte er.
Ich starrte ihn an und war zu verblüfft, um ein Wort herauszubringen. Aber er nickte wieder, als hätte ich eine Frage gestellt.
»Du glaubst zu wissen, was du mir angetan hast, aber du weißt nicht alles. Sallie hat mich verlassen. Sie ist zu ihrer Familie drunten in McCook gezogen. Sie sagt, dass sie vielleicht zurückkommt, dass sie sich die Sache überlegen will, aber ich glaube nicht, dass sie das tut. Also sitzen wir beide in demselben kaputten alten Boot, nicht wahr? Wir sind zwei Männer, die das Jahr mit Ehefrauen begonnen haben und nun keine mehr haben. Wir sind zwei Männer, die das Jahr mit lebenden Kindern begonnen haben und nun keine mehr haben. Der einzig erkennbare Unterschied ist, dass ich nicht mein halbes Haus und die halbe Scheune eingebüßt habe.« Er dachte darüber nach. »Und dass ich noch beide Hände habe. Das ist immerhin etwas. Beim Wichsen - sollte ich jemals den Drang danach verspüren - könnte ich mir aussuchen, welche Hand ich nehmen will.«
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