Natürlich habe ich die Zeitungen studiert. Und ich habe an Leute geschrieben, die meinem Sohn und seiner schwangeren Freundin auf ihrem kurzen, verhängnisvollen Weg von Nebraska nach Nevada begegnet sind. Die meisten dieser Leute schrieben zurück und schilderten bereitwillig Einzelheiten. Solche Detektivarbeit ist sinnvoll und zweifellos auch befriedigend. Aber diese Ermittlungen folgten Jahre später, nachdem ich die Farm verlassen hatte, und bestätigten nur, was ich schon wusste.
Schon?, fragen Sie, und ich antworte einfach: Ja. Schon. Und ich wusste es nicht nur, als es passierte, sondern einen Teil davon bereits im Voraus. Den letzten Teil.
Wie das denn? Die Antwort ist einfach: Meine tote Frau hat es mir erzählt.
Das glauben Sie natürlich nicht. Dafür habe ich Verständnis. Das täte jeder vernünftige Mensch. Ich kann nur wiederholen, dass dies mein Geständnis, mein letztes Wort auf Erden ist, das keine einzige bewusste Unwahrheit enthält.
In der folgenden Nacht (oder der übernächsten; nachdem das Fieber von mir Besitz ergriffen hatte, verlor ich jegliches Zeitgefühl) wachte ich am Herd sitzend aus einem Dämmerschlaf auf und hörte wieder die huschenden, trippelnden Geräusche. Anfangs glaubte ich wieder an Schneeregen, aber als ich aufstand, um von dem altbackenen Laib auf dem Küchentisch einen Kanten Brot abzureißen, sah
Der Schnappriegel bewegte sich. Erst zitterte er nur, als wäre die Hand, die ihn öffnen wollte, zu schwach, um ihn ganz aus der Nut zu heben. Die Bewegung hörte auf, und ich war eben zu dem Schluss gelangt, gar nichts gesehen zu haben - alles sei eine Illusion im Fieberwahn gewesen -, als er mit leisem Klicken ganz hochging und die Tür mit einem Schwall kalter Luft aufschwang. Auf der Veranda stand meine Frau. Sie trug weiter ihr Haarnetz aus Rupfen, jetzt mit Schnee gefleckt; von dem Ort, der ihr letzter Ruheplatz hätte sein sollen, musste es ein langer, schmerzhafter Weg herüber gewesen sein. Ihr Gesicht war von Verwesung schlaff, die untere Hälfte seitlich verschoben, ihr Grinsen breiter denn je. Es war ein wissendes Grinsen, und wieso auch nicht? Die Toten verstehen alles.
Arlette war von ihren treuen Gefolgsleuten umgeben. Sie hatten sie irgendwie aus dem Brunnen geholt, und sie hielten sie aufrecht. Ohne sie wäre sie nicht mehr als ein Gespenst gewesen: bösartig, aber machtlos. Aber sie hatten sie animiert. Sie war ihre Königin; sie war auch ihre Marionette. Sie kam in die Küche und bewegte sich dabei mit schwankendem, grausig knochenlosem Schritt, der keine Ähnlichkeit mit dem Gang eines Menschen hatte. Die Ratten flitzten um sie herum, manche sahen liebevoll zu ihr auf, andere starrten mich hasserfüllt an. Als sie wie auf einem Rundgang durch ihr früheres Reich durch die Küche wankte, fielen Erdbrocken von ihrem Kleidersaum (von dem Quilt und der Tagesdecke war nichts zu sehen), und ihr Kopf über der durchgeschnittenen Kehle rollte schwankend hin und her. Einmal kippte er bis zu den Schulterblättern
Als sie ihren glanzlosen Blick endlich auf mich richtete, wich ich in die Ecke neben dem jetzt fast leeren Brennholzkasten zurück. »Lass mich in Ruhe«, flüsterte ich. »Du bist nicht mal hier. Du sitzt im Brunnen und kannst nicht raus, selbst wenn du nicht tot bist.«
Sie ließ ein Gurgeln hören - es klang, als würde jemand an dicker Bratensoße ersticken - und kam weiter auf mich zu, real genug, um einen Schatten zu werfen. Und ich konnte ihr verwesendes Fleisch riechen, das jener Frau, die einst in leidenschaftlichen Augenblicken Zungenküsse mit mir getauscht hatte. Sie war hier. Sie war real. Ebenso real war ihr Gefolge. Ich konnte spüren, wie die Ratten über meine Füße hin und her huschten und mich mit ihren Schnurrbarthaaren an den Knöcheln kitzelten, während sie am Beinabschluss meiner langen Unterhose schnüffelten.
Als ich dem näher kommenden Leichnam ausweichen wollte, stieß ich mit den Fersen an den Brennholzkasten, verlor das Gleichgewicht und setzte mich darauf. Dabei schlug ich mir die entzündete und geschwollene Hand an, nahm den Schmerz aber kaum wahr. Sie beugte sich über mich, und ihr Gesicht … baumelte . Das Fleisch hatte sich von den Knochen gelöst, und ihr Gesicht hing jetzt herunter wie ein auf einen schlaffen Kinderballon gemaltes Gesicht. Eine Ratte erkletterte den Brennholzkasten, plumpste auf meinen Bauch, lief die Brust hinauf und beschnüffelte die Unterseite meines Kinns. Ich spürte andere über meine gebeugten Knie huschen. Aber sie bissen mich nicht. Dieser spezielle Auftrag war schon ausgeführt.
Sie beugte sich noch tiefer zu mir herunter. Der Gestank, den sie verströmte, war überwältigend, und ihr von einem Ohr zum anderen reichendes schiefes Grinsen … ich sehe es vor mir, während ich dies schreibe. Ich wollte sterben,
Das weiß ich jetzt.
Nachdem Henry mit 200 Dollar in der Tasche (oder eher 150 Dollar, weil ein Teil des Geldes zu Boden gefallen war, wie Sie sich erinnern werden) aus der First Agricultural Bank geflüchtet war, verschwand er für einige Zeit. Er »tauchte unter«, wie es bei Verbrechern heißt. Das sage ich mit einem gewissen Stolz. Ich hatte geglaubt, dass man ihn fast sofort nach seiner Ankunft in der Stadt schnappen würde, aber er widerlegte meine Befürchtungen. Er war verliebt, er war verzweifelt, er brannte weiter vor Schuldgefühlen und Entsetzen wegen des Verbrechens, das er und ich verübt hatten … aber trotz dieser Ablenkungen (dieser Infektionen ) bewies mein Sohn Tapferkeit und Cleverness, sogar eine gewisse traurige Noblesse. Der Gedanke an letzteren Charakterzug ist der schlimmste. Er erfüllt mich noch heute mit Melancholie wegen seines verpfuschten Lebens (wegen dreier verpfuschter Leben; ich darf die arme schwangere Shannon Cotterie nicht vergessen) und Reuegefühlen wegen des Verderbens, in das ich ihn wie ein Kalb mit einem Strick um den Hals geführt habe.
Arlette zeigte mir die Hütte, in der er sich verkrochen hatte, und das dahinter versteckte Fahrrad - dieses Fahrrad war das Erste, was er sich von seiner Beute kaufte. Ich hätte Royal Crown Cola auf der Giebelseite. Sie stand einige Meilen außerhalb von Omaha in Sichtweite des Waisenhauses »Boys Town«, das erst im Jahr zuvor den Betrieb aufgenommen hatte. Ein einziger Raum, ein unverglastes Fenster, kein Ofen. Henry versteckte sein Fahrrad unter Heu und Unkraut und schmiedete Pläne. Ungefähr eine Woche nach dem Überfall auf die First Agricultural Bank - unterdessen würde die Polizei sich kaum mehr für diesen nicht gerade spektakulären Bankraub interessieren - begann er, Radtouren nach Omaha hinein zu unternehmen.
Ein einfältiger Junge wäre geradewegs zum Mädchenheim St. Eusebia gefahren und von den dortigen Cops geschnappt worden (wie Sheriff Jones zweifellos erwartet hatte), aber Henry Freeman James war cleverer. Er kundschaftete die Lage des Heims aus, ohne sich ihm jedoch zu nähern. Stattdessen sah er sich nach dem nächsten Süßwarenladen mit einer Eis- und Limonadentheke um. Er vermutete ganz richtig, dass die Mädchen dort hingehen würden, sooft sie konnten (das heißt, wenn sie sich durch Wohlverhalten einen freien Nachmittag verdient hatten und etwas Geld ihr Eigen nannten). Und obwohl die Mädchen aus St. Eusebia keine Schuluniform tragen mussten, waren sie an ihrer uneleganten Kleidung, ihrem gesenkten Blick und ihrem Benehmen - abwechselnd scheu und kokett - leicht zu erkennen. Die mit dickem Bauch und ohne Trauring mussten am auffälligsten sein.
Ein dummer Junge hätte versucht, an der Limonadentheke mit einer dieser bedauernswerten Evastöchter ins Gespräch zu kommen, was hätte auffallen müssen. Henry postierte sich außerhalb: an der Einmündung einer Gasse, die hinter dem Süßwarenladen und dem Kurzwarengeschäft
Ich habe die junge Frau später ausfindig gemacht und mit ihr gesprochen. Dazu war nicht allzu viel Spürsinn erforderlich. Henry und Shannon kam Omaha bestimmt wie eine Metropole vor, aber im Jahr 1922 war es nur eine überdurchschnittlich große Kleinstadt im Mittleren Westen mit Großstadtambitionen. Heute ist Victoria Hallett eine ehrbare Ehefrau mit drei Kindern, aber im Herbst 1922 war sie Victoria Stevenson: jung, neugierig, rebellisch, im sechsten Monat schwanger und scharf auf Zigaretten der Marke Sweet Corporal. Sie griff gern zu, als Henry ihr sein Päckchen anbot.
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