Er blieb stehen. Er hatte ein leises Rascheln vernommen.
Sally hielt ebenfalls an.
»Sally, gehen Sie hinter mir her«, sagte Tom.
»Ich hab die Kanone. Ich müsste vorausgehen.«
»Gehen Sie hinter mir her!«
»Verflucht noch mal.« Doch sie trat hinter ihn.
Tom zog seine Machete und stiefelte los. Überall um sie herum standen verkrüppelte Bäume mit niedrigen, bemoo-sten Ästen. Der Nebel war so dicht, dass man ihre Wipfel nicht erkennen konnte. Dann fiel Tom auf, dass der Wind dem Jaguar nun ihre Witterung zutrug. Er war um sie he-rumgegangen, damit er sie wittern konnte und nicht mehr zu erspähen brauchte.
»Sally, ich spüre, dass er hinter uns her ist.«
»Er ist nur neugierig.«
Tom erstarrte. Da, an die zehn Meter entfernt, stand der Jaguar und offenbarte sich urplötzlich ihren Blicken. Er stand oberhalb ihres Weges auf einem Ast, musterte sie gelassen und bewegte den Schweif. Er sah so prächtig aus, dass Tom der Atem stockte.
Sally hob ihre Waffe nicht zum Schuss, und Tom verstand weshalb. Es war unmöglich, auch nur zu erwägen, ein so wunderschönes Tier zu vernichten.
Nach einem Augenblick des Zögerns sprang der Jaguar mühelos auf einen anderen Ast und lief geschmeidig über ihn hinweg, ohne die beiden Menschen aus den Augen zu lassen. Seine Muskeln wogten unter dem goldenen Fell, das sich wie fließender Honig bewegte.
»Schauen Sie mal, wie schön er ist«, raunte Sally.
Und er war wirklich schön. Die Raubkatze sprang mit einer unglaublich leichtfüßigen Bewegung auf einen anderen Ast, sodass sie ihnen noch näher kam. Dort verharrte sie und ließ sich langsam nieder. Sie schaute die beiden Menschen herausfordernd und ohne jede Spur von Furcht an und machte keinen Versuch, sich zu verstecken. Außerdem rührte sie sich nicht, wenn man von einem leichten Zucken ihrer Schweifspitze absah. An ihrer Schnauze klebte Blut.
Der Blick, mit dem sie Tom und Sally betrachtete, hatte etwas Geringschätziges.
»Er hat keine Angst«, sagte Sally.
Tom wich langsam zurück. Sally tat es ihm gleich. Der Jaguar blieb sitzen und beobachtete sie. Er behielt sie pausenlos im Auge, bis er dann schließlich im wabernden Dunst verschwand.
Als sie ins Lager zurückkehrten, hörte Don Alfonso sich ihre Geschichte an. Sein braunes Gesicht legte sich in besorgte Falten. »Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte er.
»Wir dürfen nie wieder über dieses Tier sprechen. Sonst folgt es uns, weil es hören will, was wir reden. Es ist nämlich sehr stolz und mag es nicht, wenn man schlecht über es spricht.«
»Ich dachte, Jaguare greifen keine Menschen an«, sagte Sally.
Don Alfonso lachte und tätschelte ihr Knie. »Das ist ein guter Witz. Wenn er einen Menschen anschaut ... Was sieht er dann Ihrer Meinung nach?«
»Keine Ahnung.«
»Er sieht ein schwaches, dummes, langsames, aufrecht gehendes Stück Fleisch ohne Hörner, Zähne und Krallen.«
»Warum hat er uns dann nicht angegriffen?«
»Weil er, wie alle Katzen, gern mit seiner Beute spielt.«
Sally schüttelte sich.
»Es ist nicht erfreulich, von einem Jaguar gefressen zu werden, Curandera. Sie fressen zuerst die Zunge, aber sie warten nicht immer ab, bis man tot ist. Wenn Sie noch mal die Gelegenheit haben, töten Sie ihn.«
In dieser Nacht war der Wald so still, dass Tom Probleme mit dem Einschlafen hatte. Irgendwann nach Mitternacht kroch er in der Hoffnung, etwas frische Luft werde ihm gut tun, aus dem Unterstand. Der sich ihm bietende Anblick verblüffte ihn. Um ihn herum leuchtete der Wald in Phos-phorglanz, als hätte jemand Leuchtpulver verstreut. Das Licht umriss zerfallende Baumstämme und Strünke, Laub, Pilze und eine strahlende Landschaft, die sich in den Wald hinein erstreckte und in dunstigem Glanz verschmolz. Es war, als sei der biblische Himmel auf die Erde gekommen.
Fünf Minuten später kroch er in den Unterstand zurück und rüttelte Sally. Sie drehte sich um. Ihr Haar war ein Filz aus schwerem Gold. Sie schlief, wie die anderen, in ihren Kleidern. »Was ist denn?«, fragte sie müde. »Sie müssen sich unbedingt was ansehen.« »Ich schlafe doch.«
»Man muss es einfach gesehen haben.« »Ich muss überhaupt nichts. Hauen Sie ab.« »Sally, vertrauen Sie mir. Nur dieses eine Mal.« Sally wälzte sich murrend aus der Hängematte und trat ins Freie. Dort blieb sie stehen und schaute sich schweigend um. Minuten vergingen. »Mein Gott«, hauchte sie dann, »ich hab noch nie so was Schönes gesehen. Es ist, als würfe man aus zehntausend Meter Höhe einen Blick auf Los Angeles.«
Das Leuchten erhellte leicht Sallys Gesicht und zeichnete ihre Umrisse vor der Dunkelheit nach. Ihr langes Haar schwang wie eine Lichtkaskade über ihren Rücken, doch es war jetzt silbern statt golden.
Aus einem Impuls heraus nahm Tom ihre Hand. Sally zog sie nicht zurück. Es lag etwas überraschend Erotisches darin, nur ihre Hand zu halten. »Tom?« »Ja?«
»Warum wollten Sie, dass ich das sehe?« »Na ja«, sagte Tom, »weil ich ...« Er zögerte. »Ich wollte es eben mit Ihnen teilen, mehr nicht.«
»Mehr nicht?« Sally schaute ihn eine ganze Weile an. Ihre Augen wirkten ungewöhnlich strahlend - aber vielleicht war es ja nur eine optische Täuschung. Schließlich sagte sie:
»Ich danke Ihnen, Tom.«
Urplötzlich zerriss der Schrei des Jaguars die nächtliche Stille. Ein schwarzer Schatten bewegte sich langsam vor dem strahlenden Hintergrund - wie das Nichtvorhanden-sein von Licht. Als er ihnen seinen mächtigen Schädel zuwandte, sahen sie, dass das matte Leuchten seiner Augen die Millionen Pünktchen in zwei Kugeln reflektierte, wie zwei winzige Galaxien.
Tom zog Sally langsam an der Hand zu dem Aschehaufen, der einmal ihr Lagerfeuer gewesen war. Er bückte sich und schob ein Stück Holz aus ihm hervor. Als die gelben Flammen nach oben züngelten, tauchte der Jaguar unter.
Kurz darauf gesellte Don Alfonso sich zu ihnen ans Feuer.
»Er spielt noch immer mit seiner Beute«, murmelte der Greis.
Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, war der Nebel so dicht, dass man in keine Richtung weiter als drei Meter sehen konnte. Sie stiegen den Berg hinauf und folgten dem schwach erkennbaren Wildwechsel. Bald erreichten sie einen zweiten Kamm, dann ging es abwärts. Tom konnte am Fuß des Berges das Tosen eines Gewässers hören. Kurz darauf kamen sie am Steilufer eines Flusses heraus, der an der Bergseite in die Tiefe stürzte und dabei über die Findlinge schoss.
»Wir fällen einen Baum«, sagte Don Alfonso. Er pirschte herum und fand schließlich einen schlanken Stamm, der so günstig stand, dass er in die richtige Richtung fallen musste. »Schlagt ihn an dieser Stelle«, ordnete er an. Alle gaben sich größte Mühe. Nach einer Viertelstunde war der Baum gefällt und bildete dort, wo der von einem anderen Stamm versperrte Fluss sich zu einer strudelnden Rinne verengte, die dann in einem wirbelnden Tümpel endete, eine Art Brücke über die brüllende Stromschnelle.
Don Alfonso hackte auf einen in der Nähe stehenden jungen Baum ein. Kurz darauf hatte er ihn zu einem etwa zehn Meter langen Stab verarbeitet. Er reichte ihn Vernon. »Sie gehen als Erster, Vernito.«
»Warum ich?«
»Weil ich sehen will, ob die Brücke Sie trägt.«
Vernon schaute ihn kurz an. Don Alfonso klopfte ihm lachend auf die Schulter. »Sie müssen die Schuhe ausziehen, Vernito. Gott hat uns nicht ohne Grund nackte Füße gegeben.«
Vernon streifte seine Schuhe ab, knotete die Schnürsenkel aneinander und hängte sie sich um den Hals. Don Alfonso reichte ihm den Stecken.
»Machen Sie langsam, und halten Sie an, sobald der Baum anfängt zu schaukeln.«
Vernon begab sich auf die Behelfsbrücke und balancierte den Stab wie ein Seiltänzer. Seine Füße wirkten auf dem dunklen Grün ziemlich weiß. »Es ist aalglatt hier.«
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