»Was waren das für Soldaten?«, fragte Tom.
Don Alfonso stellte seine Tätigkeit an den Hängematten nicht ein. »Es waren die Soldaten, die mit Ihrem Bruder Philip den Fluss heraufgekommen sind.«
»Philip würde nie zulassen, dass man uns angreift«, sagte Vernon.
»Nein«, sagte Tom. Er hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Vielleicht war es in Philips Expedition zu einer Meuterei gekommen oder es war sonst was passiert. Jedenfalls musste Philip ernstlich in Gefahr sein - falls er überhaupt noch lebte. Der unbekannte Feind konnte kein anderer sein als Hauser. Er hatte die beiden Polizisten in Santa Fe getötet und für ihre Festnahme in Brus gesorgt. Er steckte sicher auch hinter dem gerade erfolgten Angriff.
»Die Frage ist nur«, sagte Sally, »ob wir weitergehen oder umkehren.«
Tom nickte.
»Es wäre Selbstmord, wenn wir weitergingen«, meinte Vernon. »Wir haben doch nichts mehr - keinen Proviant, keine Kleidung, keine Zelte, keine Schlafsäcke.«
»Philip ist vor uns«, sagte Tom. »Und er ist in Schwierigkeiten. Es dürfte wohl klar sein, dass Hauser es war, der die Morde an den beiden Polizisten in Santa Fe veranlasst hat.«
Stille.
»Vielleicht sollten wir umkehren und mit neuer Ausrüstung zurückkommen. So, wie es jetzt aussieht, können wir ihm nicht helfen, Tom.«
Tom musterte Don Alfonso, der sich konzentriert als Flechter betätigte. Die aufgesetzt neutrale Miene des Greises sagte ihm, dass er eine Meinung zu dieser Frage hatte.
Er sah immer so aus, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. »Don Alfonso?«
»Ja?«
»Was sagen Sie dazu?«
Don Alfonso legte die Hängematte nieder und rieb sich die Hände. Dann blickte er Tom in die Augen. »Dazu habe ich nichts zu sagen. Allerdings habe ich etwas anzumerken, das auf Tatsachen basiert.«
»Und das wäre?«
»Hinter uns liegt ein tödliches Sumpf gebiet, in dem das Wasser täglich weiter sinkt. Wir haben kein Boot. Es wird mindestens eine Woche dauern, eines zu bauen. Aber wir können keine Woche am gleichen Platz bleiben, weil die Soldaten uns dann nämlich finden. Außerdem ist der Bau eines Einbaums mit Rauch verbunden, den jeder sehen kann. Deswegen müssen wir in Bewegung bleiben, zu Fuß, durch den Dschungel, in Richtung Sierra Azul. Wenn wir umkehren, sterben wir. So viel zu meinen Tatsachen.«
Marcus Hauser saß am Feuer auf einem Baumstamm. Zwischen seinen Zähnen steckte eine Churchill. Er nahm gerade seine Steyr AUG auseinander. Es war zwar nicht nötig, aber für Hauser war eine sich wiederholende körperliche Tätigkeit fast so etwas wie Meditation. Das Gewehr bestand hauptsächlich aus ausgezeichnet fabriziertem Kunststoff, und das gefiel ihm. Er zog den Spannhebel zurück, packte die Griffschale, nahm den linken Daumen zu Hilfe und drückte den Verschlussriegel herunter. Dann drehte er den Lauf im Uhrzeigersinn und zog ihn nach vorn. Er rutschte mit zufrieden stellender Leichtigkeit heraus.
Hin und wieder warf Hauser einen Blick in den Wald, in dem Philip angebunden war. Aber er vernahm keinen Laut.
In den Morgenstunden hatte er einen Jaguar brüllen hören.
Das Gebrüll hatte Frustration und Hunger signalisiert, aber Hauser wollte nicht, dass sein Gefangener aufgefressen wurde - jedenfalls nicht, bevor er nicht wusste, wohin der alte Max sich gewendet hatte. Hauser warf noch etwas Holz ins Feuer, um die Dunkelheit und den umherschleichenden Jaguar zu verscheuchen. Rechts von ihm floss der Río Macaturi am Lagerplatz vorbei. Er erzeugte leise plätschernde und strudelnde Geräusche. Es war zur Abwechslung mal eine wunderschöne Nacht. Am samtenen Himmel leuchteten Sterne, die sich als matt tanzende Lichter auf der Wasseroberfläche spiegelten. Es war fast zwei Uhr morgens, doch Hauser gehörte zu den Glücklichen, denen vier Stunden Schlaf pro Nacht reichten.
Er schob einen weiteren Ast ins Feuer, um mehr Licht zu haben, dann ließ er den Verbindungsbolzen aus dem Ver-schlussgehäuse gleiten. Seine Hand streichelte behutsam die glatten Teile aus Kunststoff und Metall - die einen waren warm, die anderen kalt - und genoss den Geruch des Waffenöls sowie das Klicken der von fachmännischer Hand fabrizierten, sich voneinander lösenden Teile. Noch ein paar geübte Bewegungen, und das Gewehr würde in seine sechs Hauptteile zerlegt vor ihm liegen. Er nahm jedes Teil in die Hand, untersuchte es, reinigte es und fuhr mit den Händen darüber. Dann setzte er die Waffe wieder zusammen. Er arbeitete langsam, fast wie im Traum: Hier gab es keine Hetzerei wie im Ausbildungslager.
Hauser vernahm ein leises Geräusch: das Quietschen der zurückkehrenden Boote. Das Unternehmen war abgeschlossen, die Männer kamen pünktlich zurück. Hauser freute sich. Nicht mal ein halbgescheiter Trupp honduranischer Soldaten konnte einen so simplen Auftrag vermasseln.
Oder doch? Er sah den Einbaum, der sich aus dem dunklen Leib des Flusses materialisierte. Doch an Bord befanden sich keine fünf Soldaten, sondern nur drei. Hauser beobachtete sie mit einem klammen Gefühl in der Brust. Das Boot legte an dem langen Findling an, der ihnen als Landesteg diente. Zwei Männer sprangen heraus. Vom Feuer erhellte Gestalten bewegten sich vor der Dunkelheit und halfen dem dritten Mann an Land. Er ging mit steifen Schritten.
Hauser hörte ein von Schmerzen kündendes Stöhnen. Drei Männer - und er hatte fünf ausgeschickt.
Hauser schob die Kolbenplatte hinein, ließ den Montage-block einfahren und drehte die Gehäuseklappe nach links.
Er arbeitete nach Gefühl, denn sein Blick war auf die Gestalten gerichtet, die sich nun dem Lagerfeuer näherten. Die Männer kamen ihm verlegen und nervös vor. Einer der Soldaten stützte seinen verwundeten Kameraden. Ein meterlanger Pfeil hatte den Oberschenkel des Mannes durchschlagen. Das gefiederte Ende ragte an der anderen Seite heraus, die entblößte Metallspitze vorn. Sein Hosenbein war zerrissen und steif vom getrockneten Blut.
Die Männer standen wortlos da, schauten mehr oder weniger zu Boden und scharrten mit den Füßen. Hauser wartete ab. Die Ungeheuerlichkeit seines Fehlers - diesen Leuten zuzutrauen, einen absolut simplen Auftrag zu erledigen - war nun offensichtlich. Er baute das Gewehr weiter zusammen, drehte den Lauf wieder an Ort und Stelle und schob mit einem Klicken das Magazin ein. Dann wartete er wieder ab. Die Waffe ruhte auf seinen Knien. In seinem Herzen war ein eisiges Gefühl.
Die Stille wurde langsam unerträglich. Jemand musste nun etwas sagen.
»Jefe ...«, setzte der Leutnant an. Hauser wartete auf seine Ausrede.
»Wir haben zwei von ihnen getötet, Jefe, und ihre Boote und Vorräte verbrannt. Ihre Leichen sind im Kanu.« »Wer sind die Toten?«, fragte Hauser nach einer Weile. Nervöses Schweigen. »Die beiden Tawahka-Indianer.« Hauser schwieg. Es war eine Katastrophe. »Der Alte, der bei ihnen ist, hat die Falle bemerkt, bevor wir das Feuer eröffnen konnten«, fuhr der Teniente fort. »Sie haben gewendet. Wir haben sie flussabwärts verfolgt, aber es ist ihnen gelungen, an Land zu gehen und im Dschungel zu verschwinden. Wir haben ihre Boote und Vorräte verbrannt. Als wir sie dann im Dschungel verfolgt haben, hat einer der Tawahka uns aufgelauert. Er hatte Pfeil und Bogen, und das war ziemlich schlimm für uns. Wir konnten ihn erst lokalisieren, nachdem er zwei von uns erledigt und den dritten verwundet hatte. Dann haben wir ihn getötet. Sie wissen ja, wie diese Dschungelindianer sind, Jefe ... So leise wie ein Jaguar ...«
Seine Stimme klang elend. Seine Bewegungen zeugten von Nervosität. Der Mann, in dessen Bein der Pfeil steckte, stieß ein unfreiwilliges Stöhnen aus.
»Sie sehen also, Jefe, wir haben zwei getötet und die anderen ohne Vorräte in den Dschungel gejagt. Sie haben nichts mehr ... Sie werden bestimmt sterben ...«
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