Sally warf Tom einen Blick zu. Die Sonne hatte sein hell-braunes Haar gebleicht und mit Gold gesprenkelt. Er war hager, hoch gewachsen, drahtig und bewegte sich auf eine cowboyhafte Art, die ihr gefiel. Sie fragte sich, wie jemand hundert Millionen Dollar einfach so verschmähen konnte.
Das hatte sie mehr beeindruckt als alles andere. Sie war lang genug auf dieser Welt, um zu wissen, dass Leute mit Geld sich viel mehr um ihre Finanzen sorgten als jene, die keines hatten.
Tom wandte sich um und schaute sie an. Sally lächelte schnell und blickte wieder aus dem Fenster. Je weiter die Küste nach Osten verlief, desto wilder wurde die Landschaft unter ihnen und die Lagunen weitläufiger und kom-
plizierter. Schließlich kam die bisher größte Lagune ins Blickfeld. Sie war mit Hunderten von winzigen Inseln gesprenkelt. Ein großer Fluss mündete in das gegenüberliegende Ende. Als sie zum Anflug abdrehten, sah Sally dort, wo der Fluss sich mit der Lagune verband, eine Ortschaft; eine Ansammlung glänzender Blechdächer, von einem Wirrwarr unregelmäßiger Felder umgeben. Sie lagen wie zerrissene Lumpenfetzen auf der Landschaft. Der Pilot beschrieb einen Kreis, dann hielt er auf den Landeplatz zu, der sich, als sie näher kamen, als Wiese entpuppte. Er setzte nach Sallys Ansicht sehr schnell zur Landung an, und obwohl sie dem Boden immer näher kamen, schien die Maschine weiter zu beschleunigen. Sally hielt sich an den Sitz-lehnen fest. Die Landebahn raste unter ihnen dahin, aber die Maschine ging nicht tiefer. Dann sah sie, wie die Mauer aus Dschungellaubwerk am anderen Ende mit höchster Geschwindigkeit auf sie zu kam.
»Herrgott«, rief Sally. »Sie schießen über die Landebahn hinaus!«
Die Maschine stieg schnell und leicht wieder hoch. Der Dschungel flog unter ihnen dahin. Die Baumwipfel waren kaum fünf Meter unter ihnen. Als sie aufstiegen, hörte Sally Johns trockenes Lachen in ihrem Kopfhörer. »Immer mit der Ruhe, Sal. Ich bin nur mal über die Landebahn gefegt, um sie zu säubern. Ich hab meine Lektion nämlich gelernt.«
Als die Maschine abschwenkte und erneut zur Landung ansetzte, lehnte Sally sich zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nett von Ihnen, dass Sie uns warnen.«
»Ich hab euch doch von dem Schwein erzählt ...«
Sie bezogen in der Stadt im La Perla Quartier, einer Klinkerhütte, die sich Hotel nannte. Dann gingen sie zum Fluss hinunter, um zu schauen, wo man ein Boot mieten konnte.
Sie schlenderten durch die schmutzigen Gassen von Brus.
Es war Nachmittag, die Hitze hatte die Luft lustlos und tot gemacht. Alles war still, am Boden standen Unmengen dampfende Pfützen. Der Schweiß lief Sally aus den Ärmeln, am Hals hinab und zwischen ihre Brüste. Sie hatte den Eindruck, dass alle vernünftigen Menschen Siesta hielten.
Am anderen Ende der Ortschaft stießen sie auf den Fluss.
Er lag zwischen steilen erdigen Ufern, war etwa zweihundert Meter breit und hatte die Farbe von Mahagoni. Er schlängelte sich zwischen dichten Urwaldmauern dahin und roch schlammig. Das zähflüssige Wasser bewegte sich träge, an der Oberfläche kräuselten sich Strudel und Wirbel. Hier und da trieben langsam grüne Blätter oder Zweige flussabwärts. Ein Gehweg aus Balken führte von der steilen Uferstraße nach unten und endete an einer Bambusrohr-plattform, die über dem Wasser errichtet worden war und einen wackeligen Kai bildete. Vier Einbaumkanus lagen dort vertäut. Sie waren etwa zehn Meter lang, eins zwanzig breit und bestanden aus riesigen Baumstämmen, die sich zu einem lanzenähnlichen Bug verjüngten. Ihr Heck war flach abgeschnitten und mit einem Brett versehen, an dem man kleine Außenbordmotoren befestigen konnte. Vorn und hinten angebrachte Bretter dienten als Sitzfläche.
Sie kletterten die Uferstraße hinab, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Sally stellte fest, dass drei der Einbäume mit 6-PS-Evinrude-Motoren ausgerüstet waren. Das vierte war länger und schwerer und verfügte über eine 18-PS-Maschine.
»Das ist der Renner hier!«, rief sie auf das Boot deutend.
»Genau das Richtige für uns.«
Tom schaute sich um. Die Umgebung wirkte verlassen.
»Da ist jemand.« Sally zeigte auf eine etwa fünfzig Meter weiter am Ufer stehende, an der Seite offene Bambushütte.
Neben einem Stapel leerer Blechdosen brannte ein kleines Feuer. Im Schatten zweier Bäume hatte jemand eine Hängematte aufgespannt. Ein Mann schlief darin.
Sally ging zu ihm hin. »Hola«, sagte sie.
Kurz darauf öffnete der Mann ein Auge. »Sí?«
»Wir möchten mit jemandem reden, der uns ein Boot ver-mieten kann«, sagte sie auf Spanisch.
Der Mann grunzte, dann murmelte er etwas, richtete sich in der Hängematte auf und kratzte sich grinsend am Kopf.
»Ich sprechen gut Amerikanisch. Sprechen Amerikanisch.
Irgendwann ich fahren nach Amerika.«
»Wie schön«, sagte Tom. »Wir fahren nach Pito Solo.«
Der Mann nickte, gähnte, kratzte sich. »Okay. Ich bringen hin.«
»Wir möchten das große Boot mieten. Das mit dem 18-PS-Motor.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Das doofe Boot.«
»Ist uns egal, ob es doof ist«, sagte Tom. »Genau das wol-
len wir haben.«
»Ich bringen euch in mein Boot. Doofes Boot gehört Leute von Militär.« Er streckte eine Hand aus. »Haben Bonbons?«
Sally zückte die Tüte, die sie erst an diesem Morgen und genau zu diesem Zweck erstanden hatte.
Das Gesicht des Mannes erhellte sich zu einem Lächeln. Er schob eine welke Hand in die Tüte hinein, kramte in den Süßigkeiten herum, wählte fünf oder sechs Bonbons aus und steckte sie sich alle auf einmal in den Mund. In seiner Wange entstand ein dicker Klumpen. »Bueno«, murmelte er.
»Wir möchten morgen früh aufbrechen«, sagte Tom. »Wie lange dauert die Fahrt?«
»Drei Tage.«
»Drei Tage? Ich dachte, es sind nur sechzig oder siebzig Kilometer. «
»Wasserstand niedrig. Laufen vielleicht auf. Muss staken.
Viel waten. Kann Motor nicht einsetzen.«
»Waten?«, fragte Tom. »Was ist mit dem Zahnstocherfisch?«
Der Mann maß ihn mit einem leeren Blick.
»Keine Sorge, Tom«, sagte Sally. »Sie können doch enge Unterwäsche anziehen.«
»Ah, si! Der Candiru!« Der Mann lachte. »Lieblings-geschichte von Gringos! Candiru. Ich schwimmen in Fluss jeden Tag und noch immer hab mein Chuc-Chuc. Funktioniert gut!« Er spitzte lasterhaft die Lippen und zwinkerte Sally zu.
»Verschonen Sie mich«, sagte Sally.
»Dann ist dieser Fisch also ein Scherz?«, fragte Tom.
»Nein, ist echt! Aber zuerst man muss pissen in Fluss.
Candiru riechen Pisse in Fluss, kommen her und schmatz!
Wer nicht pissen bei Schwimmen, hat kein Problem!«
»Ist hier kürzlich jemand durchgekommen? Gringos, meine ich?«
»Si. Wir sehr beschäftigt. Letzter Monat, weißer Mann kommt mit viele Kisten und Indianer aus Berge.«
»Was für Indianer?«, fragte Tom aufgeregt.
»Nackte Indianer aus Berge.« Der Mann spuckte aus.
»Wo hatte er seine Boote her?«
»Er bringen viele neue Einbaum aus La Ceiba.«
»Sind die Boote zurückgekommen?«
Der Mann lächelte, dann rieb er in einer international bekannten Geste Daumen und Zeigefinger aneinander und streckte die Hand aus. Sally gab ihm einen Fünfer.
»Boote nicht zurückkehren. Männer fahren flussaufwärts, nie kommen zurück.«
»Ist sonst noch jemand hier durchgekommen?«
»Si. Letzte Woche Jesus Christus kommen mit betrunkene Führer aus Puerto Lempira.«
»Jesus Christus?«, fragte Sally.
»Sí, Jesus Christus mit langes Haar, Bart, Gewand und Sandalen.«
»Das muss Vernon gewesen sein«, sagte Tom lächelnd.
»War jemand bei ihm?«
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