Er begann zu spielen. Plötzlich verstummten die Gespräche. Er spielte eine Mozart-Sonate, und die Musik erwachte zum Leben. In diesem Augenblick war er Mozart und erfüllte den Raum mit dem Zauber des Meisters.
Nach dem letzten Ton herrschte ehrfürchtiges Schweigen. Dann drängten die Freunde seiner Eltern sich ums Klavier, um ihn aufgeregt und überschwenglich zu beglückwünschen. Während er den Beifall und ihre Bewunderung genoß, erlebte er eine Erleuchtung: In diesem Augenblick wußte er, wer er war und was er sein Leben lang tun wollte.
»Ja, ich habe schon immer gewußt, daß ich Pianist werden wollte«, wiederholte Philip.
»Wo haben Sie Ihre Ausbildung bekommen?« fragte Lara.
»Bis ich vierzehn war, hat meine Mutter mich unterrichtet. Dann habe ich einen Studienplatz am Curtis Institute in Philadelphia bekommen.«
»Hat es Ihnen gefallen?«
»Ja, sehr.«
Er war mit vierzehn Jahren allein in einer fremden Stadt, in der er keine Freunde hatte. Das Curtis Institute of Music befand sich in vier um die Jahrhundertwende erbauten Villen und lag nur wenige Straßen vom Rittenhouse Square in Philadelphia entfernt. Es war eine Art amerikanisches Gegenstück zum Moskauer Konservatorium mit Viardo, Eqorow und Toradse. Zu seinen Absolventen gehörten Samuel Barber, Leonard Bernstein, Gian Carlo Menotti, Peter Serkin und Dutzende von weiteren international bekannten Künstlern.
»Sind Sie dort nicht einsam gewesen?«
»Nein, gar nicht.«
Er war krank vor Heimweh, denn er war noch nie von daheim fort gewesen. Als das Curtis Institute ihn nach dem Vorspielen aufnahm, wurde ihm bewußt, daß damit ein neuer Lebensabschnitt begann - und daß er nie wieder bei seinen Eltern leben würde. Die Lehrer erkannten das Talent des Jungen sofort. Seine Klavierlehrer waren Isabelle Wengerowa und Rudolf Serkin. Daneben studierte Philip Komposition und Dirigieren. Außerhalb des Unterrichts spielte er mit anderen Studenten Kammermusik. Das Klavier, auf dem er schon als Dreijähriger hatte üben müssen, war jetzt der Mittelpunkt seines Lebens, für ihn war es zu einem Zauberinstrument geworden, dem seine Finger zarte Gefühle, Gewitter und Leidenschaft entlocken konnten.
»Mein erstes großes Konzert habe ich als Achtzehnjähriger mit dem Detroit Symphony Orchestra gegeben.«
»Hatten Sie nicht schreckliches Lampenfieber?«
Er hatte vor Angst weiche Knie. Dieser riesige Saal, das erwartungsvolle Publikum, das Eintritt bezahlt hatte, um ihn zu hören! Er lief nervös in seiner Garderobe auf und ab, als an die Tür geklopft wurde. »Ihr Auftritt, Mr. Adler!« sagte eine Männerstimme. Das Gefühl, aufs Podium zu kommen und mit Beifall begrüßt zu werden, würde er nie vergessen. Und sobald er sich ans Klavier setzte, verschwand seine Nervosität schlagartig.
Danach wurde sein Leben zu einem regelrechten Konzertmarathon. Er war in Europa, Asien und Australien auf Tournee, und sein Ruf vermehrte sich mit jeder dieser Konzertreisen. William Ellerbee, ein bedeutender Agent, erklärte sich bereit, ihn unter seine Fittiche zu nehmen. Nach nur zwei Jahren war Philip Adler bereits ein gefragter Star.
Philip nickte lächelnd. »Natürlich. Das habe ich noch heute vor jedem Konzert.«
»Auf Ihren Reisen erleben Sie wohl viel?«
»Langweilig sind sie nie. Ich erinnere mich an eine Tournee mit dem Philadelphia Symphony Orchestra. Wir sollten von Brüssel aus zu einem Konzert in London fliegen. Da der Flughafen wegen Nebels geschlossen war, wurden wir mit einem Bus zum Amsterdamer Flughafen Schiphol gebracht. Die dort bereitstehende Chartermaschine war jedoch so klein, daß die Musiker nur ihr Gepäckoder ihre Instrumente mitnehmen konnten. Natürlich haben sie sich für die Instrumente entschieden. Wir sind gerade noch rechtzeitig angekommen und haben das Konzert in Jeans und Tennisschuhen gegeben.«
Sie lachte. »Mal etwas anderes ...«
»Richtig. Ein andermal sollte ich ein Konzert in Indianapolis geben, aber der Flügel stand in einem Nebenraum, zu dem niemand den Schlüssel hatte. Zuletzt mußten wir die Tür aufbrechen.«
Lara kicherte.
»Voriges Jahr sollte ich in Rom einen Beethovenabend geben, über den ein Musikkritiker danach berichtete: >Adlers Spiel war schwerfällig, seine Phrasierung im Finale völlig verfehlt. Wegen seines allzu breit angelegten Tempos wurde der jugendliche Elan dieses Stücks nie spürbar.««
»Wie schrecklich!« sagte Lara mitfühlend.
»Schrecklich war nur, daß ich das Konzert überhaupt nicht
gegeben hatte. Ich hatte mein Flugzeug verpaßt!«
Lara beugte sich nach vorn. »Erzählen Sie mir mehr.«
»Nun, in Sao Paulo sind mal mitten in einem Chopinkonzert die Pedale vom Flügel abgefallen.«
»Was haben Sie da gemacht?«
»Ich habe das Konzert ohne Pedale zu Ende gespielt. In einem anderen Saal ist mir der Flügel quer übers Podium davon gerollt.«
Mit hörbarer Begeisterung in der Stimme sprach Philip Adler über seine Arbeit.
»Ich habe wirklich Glück mit meinem Beruf. Es ist wundervoll, Menschen anrühren und in eine andere Welt versetzen zu können. Die Musik schenkt jedem von ihnen einen Traum. Manchmal glaube ich, daß Musik das einzig Gesunde in unserer verrückten Welt ist.« Er lachte verlegen. »Entschuldigung, das sollte nicht eingebildet klingen.«
»Aber das tut es nicht, Philip. Sie machen Millionen von Menschen glücklich. Ich kenne nichts Schöneres, als Sie spielen zu hören.« Sie holte tief Luft. »Wenn Sie DebussysVoiles spielen, stehe ich an einem einsamen Strand und sehe in der Ferne die Masten eines vorbeisegelnden Schiffs ...«
Er lächelte. »Ja, die sehe ich auch.«
»Und wenn Sie Scarlatti spielen, flaniere ich durch Neapel, höre die Hufe von Droschkenpferden klappern und sehe die Menschen auf den Straßen ...«
Lara merkte, daß Philip ihr mit aufrichtigem Vergnügen zuhörte, und rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was sie bei Professor Myers über Komponisten gehört hatte.
»Mit Bela Bartoks Musik entführen Sie mich in ungarische Bauerndörfer. Sie malen mit Tönen Bilder, in denen ich mich verliere.«
»Sie schmeicheln mir«, wehrte Philip ab.
»Nein, das ist mein Ernst!«
Das Dinner wurde serviert: Terrine beaujolaise, Selleriesalat und Buttertoast, Basilikumschaumsuppe mit Lachsstreifen, Chateaubriand mit Kartoffelkroketten und jungem Gemüse, frische Heidelbeeren auf Eis. Sie tranken französische Weine.
»Wir reden immer nur über mich, Lara«, sagte Philip, während sie aßen. »Erzählen Sie mir etwas über sich. Wie ist es, in ganz Amerika riesige Gebäude zu errichten?«
Lara schwieg einen Augenblick. »Das ist gar nicht leicht zu erklären.Sie sind schöpferisch mit den Händen tätig.Ich schöpfe auch etwas, zunächst in meinem Kopf. Ich baue nicht selbst, aber ich mache es möglich, daß Gebäude entstehen. Ich träume einen Traum aus Ziegeln, Beton und Stahl - und verwirkliche ihn. Ich schaffe Arbeitsplätze für Hunderte von Menschen: Architekten und Maurer und Designer und Kranführer und Installateure. Weil ich ihnen Arbeit gebe, können sie ihre Familien ernähren. Ich sorge dafür, daß Menschen angenehm und behaglich wohnen können. Ich baue attraktive Einkaufszentren, in denen sie ihren täglichen Bedarf decken können. Damit investiere ich in die Zukunft.« Diesmal lächelte Lara etwas verlegen. »Tut mir leid, ich wollte keine Rede halten.«
»Sie sind eine bemerkenswerte Frau, wissen Sie das?«
»Ich möchte, daß Sie das von mir denken.«
Es war ein zauberhafter Abend, und als er zu Ende ging, wußte Lara, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt war. Dabei hatte sie Angst gehabt, sie könnte enttäuscht werden, weil kein Mann an ihre Traumgestalt heranreichen würde. Aber ihr Lochinvar lebte, und diese Begegnung ließ ihr das Herz im Halse schlagen.
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