»... oh, ich gebe zu, daß seine Stabführung gut ist. Sie ist dynamisch und ausdrucksvoll - aber dietempi! Du lieber Himmel, seinetempi! ... «
»... du spinnst wohl? Strawinsky ist viel zu konstruiert. Seine Musik könnte von einem Roboter stammen. Er hält seine Gefühle viel zu sehr zurück. Aber Bartok öffnet alle Schleusen und überflutet uns mit Gefühlen .«
»... ich halt's einfach nicht aus, sie spielen zu hören. Ihr Chopin ist ein Gemenge aus gequältem Rubato, mißverstandenen Strukturen und rosaroter Gefühlssauce ...«
Lara, die von diesen Fachsimpeleien nichts verstand, begann sich zu langweilen. Aber dann sah sie plötzlich Philip, der von Verehrerinnen umschwärmt wurde, und drängte sich zu ihm vor. Eine attraktive junge Frau himmelte ihn an: »Bei Ihrer Interpretation der B-Moll-Sonate habe ich das Gefühl gehabt, Rachmaninow lächle Ihnen zu. Diese Ausdruckskraft ... wundervoll!«
Philip erkannte Lara. »Ah! Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte er hastig.
Er bahnte sich einen Weg zu ihr und ergriff ihre Hand. Von der bloßen Berührung bekam sie eine Gänsehaut. »Hallo. Ich freue mich, daß Sie kommen konnten, Miss Cameron.«
»Danke.« Lara sah sich um. »Die Veranstaltung scheint ein voller Erfolg zu sein.«
Er nickte. »Ja. Sie sind wohl auch eine Anhängerin klassischer Musik?«
Lara dachte an die Musik, mit der sie aufgewachsen war -»Annie Laurie«, »Comin' through the Rye«, »The Hills of Home« .
»O ja!« sagte Laura. »Mein Vater hat mich mit klassischer Musik aufgezogen.«
»Ich möchte Ihnen nochmals für Ihre Spende danken. Damit
haben Sie uns sehr geholfen.«
»Ihre Stiftung klingt so interessant. Ich würde gern mehr darüber hören. Sollten Sie .«
»Philip, Darling! Mir fehlen die Worte! Himmlisch, einfach himmlisch!« Schon war er wieder von Verehrerinnen umringt.
Lara verschaffte sich noch einmal Gehör. »Sollten Sie sich nächste Woche einen Abend freimachen können .«
Philip schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich fliege morgen nach Rom.«
»Oh«, sagte Lara enttäuscht.
»Aber in drei Wochen bin ich wieder da. Vielleicht können wir uns dann .«
»Wunderbar!« strahlte Lara.
»... einen Abend lang über Musik unterhalten.«
Sie nickte lächelnd. »Gern. Ich freue mich schon darauf.«
Im nächsten Augenblick wurden sie von zwei Männern mittleren Alters unterbrochen. Der eine trug eine Pferdeschwanz-frisur; der andere hatte einen Silberring im rechten Ohr.
»Philip! Du mußt eine Streitfrage schlichten. Was ist deiner Auffassung nach hilfreicher, wenn du Liszt spielst - ein Flügel mit schwerem Anschlag, der einen volleren Ton erzeugt, oder ein Instrument mit leichtem Anschlag, der farbigere Phrasie-rung zuläßt?«
Lara hatte keine Ahnung, wovon die beiden redeten. Aus ihrer Frage entwickelte sich eine Diskussion über neutrale Sonorität, Klangfarben und Transparenz. Als Lara sah, wie lebhaft Philip mitdiskutierte, dachte sie: Dies ist seine Welt. Ich muß irgendwie Zugang dazu bekommen.
Am Montagmorgen erschien Lara in der Manhattan School of Music. Der Empfangsdame erklärte sie: »Ich möchte bitte einen Ihrer Professoren sprechen.«
»Welchen denn?«
»Irgendeinen.« »Augenblick, bitte.« Sie verschwand nach nebenan.
Einige Minuten später kam ein kleiner grauhaariger Mann auf Lara zu.
»Guten Morgen. Ich bin Leonard Myers. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich interessiere mich für klassische Musik.«
»Ah, Sie möchten sich hier einschreiben. Welches Instrument spielen Sie denn?«
»Keines. Ich möchte nur möglichst viel über klassische Musik erfahren.«
»Da sind Sie hier am falschen Ort, fürchte ich. Dies ist keine Schule für Anfänger.«
»Ich zahle Ihnen fünftausend Dollar für zwei Wochen Privatunterricht.«
Professor Myers blinzelte. »Augenblick, Miss ... entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«
»Cameron, Lara Cameron.«
»Sie wollen fünftausend Dollar dafür zahlen, daß ich zwei Wochen lang mit Ihnen über klassische Musik diskutiere?« Er brachte die Worte nur mühsam heraus.
»Richtig. Ich kann das Geld auch der Schule spenden, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Nein, nein, das ist nicht nötig!« versicherte der Professor hastig. »Eine private Vereinbarung genügt völlig.«
»Gut, einverstanden.«
»Wann ... äh ... möchten Sie anfangen?«
»Sofort.«
»Ich habe gerade Unterricht, aber wenn Sie mir fünf Minuten Zeit lassen .«
Lara Cameron und Professor Myers saßen allein in einem Unterrichtsraum.
»Am besten fangen wir ganz von vorn an. Was wissen Sie über klassische Musik?«
»Sehr wenig.«
»Aha«, sagte Myers. »Nun, es gibt zwei Möglichkeiten, Musik zu verstehen. Emotional und intellektuell. Irgend jemand hat einmal gesagt, Musik enthülle dem Menschen seine verborgene Seele. Die großen Komponisten sind alle imstande gewesen, diese Wirkung zu erzielen.«
Lara hörte aufmerksam zu.
»Kennen Sieirgendwelche Komponisten, Miss Cameron?«
Sie lächelte. »Nicht allzu viele.«
Der Professor runzelte die Stirn. »Entschuldigen Sie, ich verstehe wirklich nicht, welches Interesse Sie an .«
»Ich möchte soviel lernen, daß ich mich mit einem Berufsmusiker über klassische Musik unterhalten kann. Dabei interessiert mich vor allem Klaviermusik.«
»Ich verstehe.« Myers dachte kurz nach. »Am besten beginnen wir mit praktischen Beispielen. Ich gebe Ihnen einige CDs mit, die Sie sich zu Hause anhören können.«
Lara beobachtete, wie er an einen CD-Ständer trat und mit mehreren Kassetten in der Hand zurückkam.
»Mit diesen hier fangen wir an. Ich möchte, daß Sie sich folgende Stücke aufmerksam anhören: das Allegro in Mozarts Klavierkonzert Nummer einundzwanzig, das Adagio in Brahms' Klavierkonzert Nummer eins, das Moderato in Rach-maninows Klavierkonzert Nummer zwei und die Romanze in Chopins Klavierkonzert Nummer eins. Alle Stücke sind gekennzeichnet.«
»Danke, Professor.«
»Wenn Sie sich diese Stücke anhören und in ein paar Tagen wiederkommen wollen .«
»Ich bin morgen früh wieder da.«
Am nächsten Morgen erschien Lara mit einem ganzen Stapel von Konzertmitschnitten Philip Adlers auf CDs.
»Ah, wunderbar!« sagte Professor Myers. »Nichts geht über
Maestro Adler. Seine Aufnahmen interessieren Sie wohl besonders?«
»Ja.«
»Der Maestro hat viele schöne Sonaten eingespielt.«
»Sonaten?«
Er seufzte. »Sie wissen nicht, was eine Sonate ist?«
»Leider nein«, gab Lara zu.
»Unter Sonate versteht man eine im allgemeinen mehrsätzige Instrumentalkomposition in kleiner oder solistischer Besetzung - zum Beispiel für Klavier oder Violine. Ihr Schema hat sich auch für Ouvertüren, Symphonien und kammermusikalische Werke durchgesetzt. Eine Symphonie ist eigentlich eine Sonate für Orchester.«
»Ja, ich verstehe.« Das müßte sich zwanglos in irgendein Gespräch einflechten lassen, dachte sie.
Die nächsten Tage verbrachten sie damit, Philips Aufnahmen zu besprechen: Beethoven, Liszt, Bartok, Mozart, Chopin, Schubert .
Lara hörte aufmerksam zu, nahm jedes Wort in sich auf und merkte sich alles.
»Er mag Liszt. Erzählen Sie mir von ihm.«
»Aus dem Wunderknaben Franz Liszt wurde ein allgemein bewunderter Komponist. Die Aristokratie hat ihn jedoch wie ein Schoßhündchen behandelt, so daß er später klagte, er stehe auf einer Stufe mit Jongleuren oder dressierten Hunden ...«
»Erzählen Sie mir von Beethoven.«
»Ein unglücklicher, schwieriger Mensch. Auf dem Höhepunkt seiner großen Erfolge fand er keinen Gefallen mehr an seinen bisherigen Werken. Danach schrieb er emotionalere Kompositionen wie dieEroica und diePathetique ... «
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