Sie beschrieb die Begegnung mit dem Arzt in North Platte, der sie beschuldigt hatte, »unzureichende Kenntnisse« zu besitzen, und ihr die Tür gewiesen hatte. Celia erzählte die Geschichte sehr farbig, und es wurde wieder völlig still im Saal. Manche nickten, andere murmelten Zustimmung. Celia vermutete, daß eine ganze Reihe von Vertretern anwesend waren, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.
»Der Doktor hatte recht«, fuhr sie fort. »Ich war einfach nicht kompetent genug, um mit hochqualifizierten Ärzten über Medikamente zu reden, obgleich man es mir hätte beibringen müssen, bevor man mich losschickte.«
Sie griff hinter sich und nahm einen Aktenordner vom Tisch.
»Ich habe vorhin Berichte von Ärzten erwähnt, die von Vertretern falsch informiert wurden. Ich habe in den knapp vier Jahren, seit ich für Felding-Roth arbeite, solche Berichte gesammelt. Lassen Sie mich ein paar Beispiele zitieren.«
Celia zog ein Blatt aus dem Ordner. »Wie Sie wissen, gibt es ein rezeptpflichtiges Arzneimittel namens Pernaltone. Es ist ein ausgezeichnetes Medikament zur Behandlung von Bluthochdruck und gehört zu den gut verkäuflichen Produkten von Fel-ding-Roth. Aber es sollte nie von Patienten mit rheumatischen Beschwerden oder Diabetes eingenommen werden. Das wäre gefährlich, und in der Fachliteratur wird ausdrücklich davor gewarnt. Trotzdem haben Vertreter dieser Firma vier Ärzten in New Jersey und zwei weiteren in Nebraska versichert, daß Pernaltone für alle Patienten unschädlich sei, einschließlich jener mit den erwähnten Krankheiten. Ich habe hier die Namen der Ärzte, falls Sie sie sehen wollen. Natürlich sind es nur die, von denen ich zufällig weiß. Bestimmt gibt es noch andere, vermutlich sehr viele. Zwei der genannten Ärzte haben die Information nachgeprüft und festgestellt, daß sie nicht stimmte. Zwei andere haben den Angaben Glauben geschenkt und das Pernaltone Patienten mit Bluthochdruck verschrieben, die auch Diabetiker waren. Mehrere dieser Patienten wurden sehr krank, einer wäre fast gestorben, hat sich aber schließlich Gott sei Dank wieder erholt.«
Celia zog ein weiteres Blatt aus ihrer Akte. »Eine unserer Konkurrenzfirmen hat ein Antibiotikum, Chloromycetin, auf dem Markt, ebenfalls ein erstklassiges Mittel, das aber nur bei ernsten Infektionen angewandt werden sollte, denn zu seinen möglichen Nebenwirkungen gehören Veränderungen im Blut, die sogar zum Tode führen können. Und dennoch - ich besitze wieder Daten, Namen und Orte - haben die Vertreter dieser Firma den Ärzten versichert, daß das Mittel harmlos sei. Und jetzt komme ich zurück zu Felding-Roth . . .«
Im weiteren Verlauf ihrer Rede häuften sich die belastenden Beweise.
»Ich könnte noch viel mehr erzählen«, sagte Celia nach einer Weile, »werde das aber nicht tun, denn in dieser Akte hier ist alles genau aufgezeichnet, so daß sich jeder selbst davon überzeugen kann. Aber ich werde die zweite Frage beantworten: Warum habe ich das alles ausgerechnet heute vorgebracht?
Ich habe es hier und heute vorgebracht, weil es für mich keine andere Möglichkeit gab, darauf aufmerksam zu machen. Seit einem Jahr habe ich mich immer wieder bemüht, jemanden in der Firma dazu zu bringen, mir zuzuhören und sich meine Akte anzusehen. Aber niemand war dazu bereit.«
Jetzt richtete Celia ihren Blick auf die beiden Reihen mit den Führungskräften. »Man mag der Ansicht sein, daß das, was ich heute getan habe, eigensinnig, ja sogar dumm ist. Vielleicht ist es das auch. Aber ich möchte betonen, daß ich es aus tiefer Überzeugung und aus Sorge getan habe - um diese Firma, um unsere Branche und um ihren guten Ruf.
Dieser gute Ruf ist getrübt, und doch tun wir wenig oder gar nichts dagegen. Die meisten von uns werden wissen, daß gegenwärtig im Kongreß Anhörungen über die pharmazeutische Industrie stattfinden. Diese Debatten richten sich gegen uns, und dennoch scheint es in der gesamten Pharma-Industrie kaum jemanden zu geben, der das ernst nimmt. Aber es ist ernst. Schon jetzt werden wir von der Presse kritisiert; und bald wird es einen öffentlichen Schrei nach Reformen geben. Wenn wir nicht schleunigst selbst etwas unternehmen, um unsere Verkaufspraktiken und unseren Ruf zu verbessern, dann wird es die Regierung für uns tun - und zwar auf eine Weise, die keinem von uns gefallen, die uns vielmehr nur schaden wird.
Aus all diesen Gründen möchte ich unsere Firma dringend bitten, als erste die Initiative zu ergreifen - indem sie ein Verkaufsethos aufstellt und indem sie für ihre Vertreter ein Ausbildungsund Trainingsprogramm entwickelt. Ich habe dafür bereits ein paar Ideen ausgearbeitet.« Celia machte eine Pause und lächelte. »Falls sich jemand dafür interessiert - sie befinden sich ebenfalls in meiner Akte.«
Und dann schloß sie mit den Worten: »Vielen Dank, ich wünsche noch einen schönen Nachmittag.«
Als Celia ihre Papiere zusammensammelte und sich daran machte, das Podium zu verlassen, gab es vereinzelten schwachen Beifall, der aber fast sofort wieder verstummte. Ganz offensichtlich richteten sich die meisten nach der kleinen Gruppe leitender Angestellter, die nicht applaudierten und deren Gesichter Mißbilligung verrieten. Der Vorsitzende des Aufsichtsrats schien verärgert; er redete mit leiser Stimme heftig auf den Präsidenten von Felding-Roth, Eli Camperdown, ein, der zustimmend nickte. Der Leiter der Verkaufsabteilung, Irving Gregson, ein New Yorker, der erst kürzlich befördert worden war, ging auf Celia zu. Gregson war von athletischem Wuchs, freundlich und beliebt. Jetzt aber war sein Gesicht finster und rot angelaufen. »Junge Frau«, erklärte er, »Sie waren bösartig und anmaßend, und außerdem stimmen Ihre sogenannten Tatsachen nicht. Das werden Sie noch bereuen. Wir werden uns später mit Ihnen befassen, im Augenblick aber fordere ich Sie auf, die Tagung zu verlassen.«
»Sir«, sagte Celia, »wollen Sie sich das Material nicht wenigstens einmal ansehen . . .«
»Ich werde mir nichts ansehen!« Gregsons Stimme war durch den ganzen Saal zu hören. »Machen Sie, daß Sie rauskommen!« »Auf Wiedersehen, Mr. Gregson«, sagte Celia. Sie drehte sich um und ging mit festen Schritten und hoch erhobenen Hauptes zum Ausgang. Später würde Zeit sein, das Ganze zu bereuen und niedergeschlagen zu sein, im Augenblick aber hatte sie nicht die Absicht, sich vor dieser Versammlung von Männern geschlagen zu geben, sich als Schwächling zu erweisen. Dennoch, sie war geschlagen, und natürlich hatte sie geahnt, daß es so kommen würde, auch wenn sie das Gegenteil erhofft hatte. Für Celia waren die aufgeführten Fehler so offensichtlich und einleuchtend, wurden Reformen so dringend benötigt, daß sie sich nur schwer hatte vorstellen können, daß die anderen ihr nach Kenntnis der Tatsachen nicht zustimmen würden.
Aber sie hatten ihr nicht zugestimmt. Und damit war ihre Tätigkeit bei Felding-Roth mit ziemlicher Sicherheit beendet oder würde es in Kürze sein. Schade. Sam Hawthorne würde wahrscheinlich betonen, er habe sie gewarnt - sie war zu weit gegangen, hatte zuviel erreichen wollen. Auch Andrew hatte sie gewarnt - damals, beim Rückflug von ihrer Hochzeitsreise, als sie ihm erzählt hatte, daß sie eine Akte mit Berichten von Ärzten zusammenstellen wolle. Sie erinnerte sich noch an Andrews Worte: »Das ist aber eine ziemlich ggroße Sache. Und nicht ohne Risiko.« Wie recht er gehabt hatte! Doch es hatte etwas mit Prinzipien zu tun und mit ihrer eigenen Integrität, und Celias Entschluß hatte schon vor langer Zeit festgestanden, in dieser Hinsicht niemals Kompromisse zu schließen. Wie hieß der Ausspruch Hamlets, den sie in der Schule gelernt hatte: » Vorallemseidem eignenSelbst getreu . . .« Allerdings zahlte man dafür seinen Preis. Und manchmal einen ziemlich hohen.
Als sie durch den Saal ging, war sie sich der mitfühlenden Blicke einiger Anwesender bewußt, die noch auf ihren Plätzen saßen. Das hatte sie nicht erwartet - nach der Kritik, die sie geübt hatte. Aber das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr.
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