Conrad überlegte. »Nächsten Monat«, antwortete er schließlich. »Ich muss erst mal nach Washington.«
»Klasse. Übrigens, diese Antarktis-Geschichte. Kann man da was draus machen?«
»Nein, Mercedes«, sagte Conrad langsam. »Nichts zu holen.«
3. Tag danach 40 Rom
Bei Eintritt der Dunkelheit landete Serenas Maschine aus Sydney in Rom. Sie wurde von Benito mit der schwarzen Limousine abgeholt und zur Berichterstattung beim Papst in den Vatikan gebracht. Fast bis drei Uhr morgens sprachen sie unter vier Augen. Schließlich legte Seine Heiligkeit ihr die zitternden Hände auf die Stirn und sprach ein kurzes Gebet.
»Gut gemacht«, sagte er einfach. »Die Stadt ist verschwunden, die Amerikaner kennen nur die halbe Wahrheit und werden sie für sich behalten. Und die Vereinten Nationen können ihre Kräfte jetzt für produktivere Dinge einsetzen. Da es Oberst Zawas nun nicht mehr gibt, ist das ganze Beweismaterial vernichtet.«
Im Großen und Ganzen stimmte das, dachte Serena. Aber ihre Erinnerung war trotzdem noch da. Sie hatte ihre Zweifel, dass sie die jemals würde auslöschen können.
Der Papst blickte ihr in die Augen. »Und was ist mit Doktor Yeats?«
»Er wird nichts preisgeben. Und wenn, wird ihm niemand glauben. Ich habe seine Digitalkamera und die Sonchis-Karte.«
Serena holte die grüne Thermosflasche aus ihrem Rucksack. Der Papst beugte sich erwartungsvoll nach vorn, als sie die Ummantelung umgriff. Aber sie runzelte auf einmal die Stirn. Es gab keine äußere Hülle. Es war eine andere Thermosflasche.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte der Papst.
Serena dachte an ihren Besuch an Conrads Bett und an den Abschied mit Tränen in den Augen. »Er hat sie gestohlen!«
Ein breites Grinsen legte sich über das kantige Gesicht des Papstes, und er fing laut an zu lachen. So hatte sie ihn noch nie lachen gehört. Er musste sogar husten, weshalb sie ihm behutsam auf den Rücken klopfte.
Serena war unklar, was da so lustig sein sollte. »Ich verspreche, dass ich Mittel und Wege finden werde, um die Karte zurückzuholen.«
Der Papst, der jetzt wieder normal atmete, winkte mit seiner knotigen Hand ab. »Genau das will er doch erreichen, Schwester Serghetti.«
»Schwester?«, wiederholte sie. »Heiliger Vater, ich bin …«
»… wieder aufgenommen, wenn Sie das möchten.«
Serena überlegte. Das war ein unglaubliches Angebot, eine zweite Chance, wie sie sich in ihrem Leben nie wieder ergeben würde.
»Aber warum, Heiliger Vater? Warum ausgerechnet jetzt?«
»Ich lebe nicht mehr lange, Schwester Serghetti. Und ich weiß nicht, wer mein Nachfolger sein wird. Aber solange Gott mich auf Erden behält, werde ich Ihnen alle Privilegien einer solchen Wiedereinsetzung zukommen lassen, einschließlich des freien Zugangs zu den Archiven des Vatikans.«
»Zu den Archiven?«, sagte sie erstaunt. Nur zwei oder drei Menschen – alles Männer – kamen in den Genuss dieses Privilegs. Der Papst war bereit, die in Ehren gehaltenen – und verfluchten – Geheimnisse mit ihr zu teilen. »Sie führen mich in Versuchung, Heiliger Vater. Sie locken mich mit Erkenntnis, genau wie die Schlange im Garten Eden.«
»Ich versichere Ihnen, Schwester Serghetti, das ist keine Versuchung«, sagte der Papst. »Das ist ein Vertrauensbeweis. Ein Geschenk. Und wenn ich Sie wäre, würde ich es annehmen. Mein Nachfolger wird möglicherweise nicht so entgegenkommend sein wie ich.«
Serena verstand, zögerte aber. Offiziell wieder Braut Christi zu sein würde sie für immer und ewig von Conrad fern halten, und die Möglichkeit, ihre Beziehung wieder aufzunehmen, wäre völlig ausgeschlossen.
Der Papst schien ihren inneren Konflikt zu spüren. »Sie lieben Doktor Yeats«, sagte er.
»Ja«, antwortete sie, ohne zu zögern, war aber selbst erschrocken, das Wort aus ihrem Mund zu hören.
»Dann wissen Sie auch, dass er mehr als je zuvor in Gefahr ist.«
Serena nickte. Sie hatte es die ganze Zeit, seit sie die Antarktis verlassen hatte, gespürt.
»Sie werden alle Kräfte des Himmels und der Erde brauchen, um ihn zu beschützen«, sagte der Papst.
»Conrad zu beschützen? Wovor?«
»Alles zu seiner Zeit, Schwester Serghetti, alles zu seiner Zeit. Im Augenblick haben wir dringlichere Aufgaben.«
Was konnte dringlicher sein?, fragte sie sich.
Der Papst zeigte ihr die Titelseite der International Herald Tribune.
»›Vier Nonnen wurden von Hindu-Nationalisten in Sri Lanka vergewaltigt und ermordet. Sie hatten Verbindung zur Regierung‹«, las er ihr vor. »Die Gewalttätigkeiten gegen die Moslems haben jetzt wieder auf Christen übergegriffen. Am Morgen werden Sie als Erstes dorthin fliegen und das tun, was Sie am besten können: unsere Sache vor der Weltöffentlichkeit verteidigen.«
»Aber jetzt ist schon Morgen, Heiliger Vater.«
»Ja, aber Sie sind sicher müde. Ruhen Sie sich noch ein paar Stunden aus.«
Serena nickte. Die Belange der realen Welt waren allzu erschütternd. So erschütternd, dass sie selbst die Gedanken an eine vergangene Kultur unter dem Eis verdrängten. Es gab größere Schlachten, die es zu schlagen galt, stellte sie fest, Schlachten gegen Hass, Armut und Krankheit.
»Ich werde Ihrem Wunsch entsprechen«, sagte sie und überlegte kurz. »Zunächst werde ich nach Sri Lanka fliegen, um die dortigen Gewalttätigkeiten zu dokumentieren. Dann gehe ich nach Washington, wo ich die Angelegenheit vor den amerikanischen Kongress bringen werde, bevor ich mich an die Vereinten Nationen wende.«
»Ausgezeichnet.«
Sie ließ sich von Benito in ihre Wohnung fahren, von wo aus sie über die Piazza del Popolo blicken konnte. Es war ein einfaches Zimmer mit nur einem Bett und einem Nachttisch. Sie fühlte sich in ihrer eigenen Welt, in der sie damals ihr Gelübde abgelegt hatte, wohler.
Neben der Verandatür, die einen blassen Mond einrahmte, hing ein Kruzifix an der Wand. Im frühen Morgenlicht kniete sie sich vor das Kruzifix. Als sie zu der Christusfigur aufsah, gestand sie Gott all ihre Arroganz: dass sie geglaubt hatte, mehr über Leiden und Verlust zu wissen als Er, und sie dankte ihm, dass er durch Jesus die Sünden der Menschheit gesühnt hatte.
Dann trat sie auf den Balkon hinaus und blickte über die Piazza auf den ägyptischen Obelisken, der vor 2.000 Jahren von Kaiser Augustus nach Rom gebracht worden war.
Das Denkmal erinnerte sie an einen anderen Obelisken, an einen, der in der Antarktis in einer Pyramide zwei Meilen unter dem Eis verborgen war. Unwillkürlich fragte sie sich: War es wirklich die erlösende Kraft Jesu am Kreuz gewesen, die den Fluch der alten ›Gottessöhne‹ gebrochen und die Welt gerettet hatte? Oder war es der selbstlose Akt eines Gottlosen wie Conrad gewesen, der seinen eitlen Ehrgeiz aufgegeben und den Obelisken in die Sternenkammer zurückgebracht hatte? Sie gelangte schließlich zu dem Schluss, dass der letzte Schritt ohne den ersten nicht hätte geschehen können.
Wie sie so dem fröhlichen Verkehrslärm der Stadt, die niemals zur Ruhe kam, lauschte, griff sie in ihre Hosentasche und zog eine Haarlocke heraus, die sie ihm abgeschnitten hatte. Irgendwann einmal, wenn sie sich davon trennen konnte, würde sie sie im Labor analysieren lassen.
Einstweilen betete sie für die unsterbliche Seele von Conrad Yeats, wer auch immer er war, und dafür, dass ihr vergeben würde. Im Innersten ihres Herzens wusste sie nämlich, dass sie sich auf die eine oder andere Weise wiedersehen würden.
Ich bin meinem Agenten Simon Lipskar, der von Anfang an an mich geglaubt hat, unendlich dankbar, dass er diesen Roman veröffentlicht und ihn mehr Lesern auf der ganzen Welt zugänglich gemacht hat, als es ein Erstlingsroman normalerweise verdient. Vielen Dank auch meiner Lektorin, Emily Bestier, die das alles erst ermöglicht hat.
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