Er war völlig durchnässt, konnte aber nirgends Schutz finden, weder draußen noch drinnen: Alles, was nicht mindestens zwei Meilen aus der Ebene emporragte, wurde überschwemmt und war im Begriff, zu Eis zu werden. Mit Schrecken musste er an die Eisleichen denken, die er beim Abstieg in die P4 gesehen hatte. So wollte er auf keinen Fall enden.
Irgendwie schaffte er es, auf alle viere zu kommen und durch das steigende Wasser zu kriechen. Er war noch nicht weit gekommen, da spürte er, wie die Temperatur bei dem peitschenden Wind sank. In der kalten, feuchten Luft zitterte er vor Kälte.
Er bewegte sich langsamer und sah eine aufgedunsene, blau angelaufene Leiche auf sich zutreiben. Als sie an ihm vorbeikam, erkannte Conrad, dass es sich um Colonel O'Dell von der Eisstation Orion handelte. Der Schrecken im Gesicht des leblosen Körpers motivierte ihn, wieder schneller zu machen.
Jetzt ging ihm das Wasser schon bis zu den Knien. Die Berge um die Stadt herum schoben sich unter dem ungeheueren Druck wie Blechdosen zusammen. Die Schulter tat immer mehr weh, bis die stechenden Schmerzen schier unerträglich wurden. Mit der heilen Hand stützte er sich ab und kam taumelnd auf die Beine. Im Wasser sah er etwas Farbiges.
Es war ein zerstörter roter Hägglunds, ein Relikt der Eisstation Orion. Zum Fahren war er nicht mehr zu gebrauchen, aber vielleicht bot ihm das Führerhaus ja den zum Überleben notwendigen Schutz.
Plötzlich neigte sich der Boden gefährlich, und Conrad schlug mit dem Kopf voraus längelang hin. Er blickte hoch und sah eine 15 Meter hohe Wasserwand auf sich zudonnern. Mit offenem Mund ergab er sich dem Schauspiel. Vor einer solchen Naturgewalt konnte man sich einfach nicht in Sicherheit bringen. Ihm wurde klar, dass es an der Zeit war, zu sterben. Er musste an Serena denken, und mit letzter Kraft streckte er den Arm nach der Tür des Hägglunds aus und drehte den schwarzen Griff, bis sich die Luke öffnete.
Dann kam das Wasser. Zunächst waren es nur ein paar Rinnsale. Dann ein wahrer Sturzbach.
Er hievte sich hinein und schaffte es gerade noch, den Sicherheitsgurt anzulegen und die Tür zu schließen, bevor die Wand auf den Hägglunds einstürzte und das Fahrzeug sich in einem Kessel voll strudelndem Eiswasser verlor.
Tagesanbruch 37 plus 1 Stunde
Serena befand sich an der Öffnung des südlichen Sternenschachts. Ihr Blick von der Spitze der P4 richtete sich auf den stürmischen Himmel. Ein Whiteout drohte. In der Ferne lagen dichte Schneewolken über der Eiswüste, und am fernen Horizont leuchteten Blitze auf.
Über sich hörte sie ein bekanntes Surren. Sie konnte es nicht fassen, aber im stürmischen Himmel über ihr schwebte ein Black-Hawk-Hubschrauber des US-Militärs. Sie wedelte wild mit den Armen.
Wie aus einem Traum kam eine Strickleiter herunter, und sie klammerte sich sofort daran fest. Sie blickte noch einmal den dunklen Schacht hinab und sah ein Schimmern. Sie stutzte und schaute genauer hin. Es war Wasser, das wie in einem Geysir nach oben drängte. Sie zerrte an der Strickleiter und wurde fortgetragen, da schoss auch schon ein Wasserstrahl in die Höhe und verfehlte den Hubschrauber nur knapp.
Ein amerikanischer Soldat hievte sie in den Black Hawk hinein. An den Mienen erkannte sie, dass die Besatzung ziemlich verblüfft war, ›Mutter Erde‹ zu sehen. Fast so geschockt wie beim Anblick der Trümmer unter ihnen. Der Oberbefehlshaber stellte sich als Admiral Warren vor und rief dem Piloten gegen das Maschinengeheul und das tosende Wasser etwas zu.
»Fliegen Sie hier raus!«, befahl Warren.
»Nein«, sagte Serena mit klappernden Zähnen. »Wir müssen erst Conrad finden, Doktor Conrad Yeats. Er ist noch da unten.«
Warren starrte sie an. »Meinen Sie etwa General Griffin Yeats?«
»Nein, seinen Sohn.«
Warren blickte zum Piloten hinüber, aber der schüttelte nur den Kopf. »Glauben Sie mir, jetzt ist niemand mehr da unten.«
Der Black Hawk drehte ab.
»Nein!« Serena versuchte nach vorn zu gelangen und das Steuer zu greifen, aber vier Soldaten hielten sie zurück und schoben sie zu dem Arzneikasten hin. Sie wollte wieder aufstehen, aber nun verließen sie ihre Kräfte. Der Arzt gab ihr eine Spritze in den Arm.
»Beruhigen Sie sich, Schwester. Sie haben einiges mitgemacht«, sagte Warren und legte ihr eine Jacke um den zitternden Körper. Sie fühlte sich schwindelig und wie benommen.
Sie strich sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah zum Fenster hinaus. Das strudelnde Wasser hatte die Stadt fast verschluckt. Nur die Spitze der P4 ragte noch aus der dunklen Tiefe empor. Als Kind hatte sie sich oft vorgestellt, wie es gewesen sein musste, als sich das Rote Meer für die Kinder Israels geteilt hatte, und wie es später wieder zusammenkam, um die Pferde und Wagen des Pharaos zu ertränken. Genau dieses Bild hatte sie jetzt vor Augen.
Sie betete zu Gott, Conrad möge sich in Sicherheit befinden, obwohl sie wusste, dass dem nicht so war. In ihrem Delirium stellte sie sich vor, wie sie nach ihm suchte: Sie würden ihn entdecken, er würde durch die Eistrümmer stolpern, er hätte auf wundersame Weise überlebt. Er würde aus dem Nebel, weißer als Schnee, auftauchen, seine Augenbrauen und Haare wären ganz weiß, fast leuchtend, als käme er gerade aus dem glänzenden Schleier des Heiligsten aller Heiligtümer. Die Amerikaner müssten landen. Sie würde auf Conrad zulaufen und ihn umarmen. Er ginge mit ihr zum wartenden Hubschrauber zurück, seine Vergangenheit für immer hinter sich lassend. Sie würden sich ganz fest halten, und Schneeflocken fielen wie Sterne um sie herum.
Aber Conrad war nicht da, stellte sie bitter fest. Und Gott erhörte ihre Gebete nicht immer so, wie sie es wollte. Als der Hubschrauber wegflog, sah sie hinab auf die flache Spitze der P4, die kaum noch aus dem Wasser ragte. Es war, als würden sie jetzt über die Südsee fliegen. Keine Spur von einer Stadt – oder von Conrad. Alles verschwunden, wie weggefegt, als wäre es niemals da gewesen.
Warren rief wieder irgendetwas. Bei dem Krach der Rotoren und dem Heulen des Windes konnte sie nicht viel davon aufschnappen. Dann hing er plötzlich in der offenen Tür. Er deutete auf etwas. Der Black Hawk schwenkte in die angegebene Richtung ein.
Serena sprang sofort hoch, hielt sich an Warren fest und blickte hinaus. Oben auf der P4 stand eine einsame Gestalt. Der Mann, der wie wild mit den Armen wedelte, trug eine UN-Uniform.
»Das ist er!«, schrie sie, so laut sie konnte.
»Runter!«, befahl Warren dem Piloten, der gegen den Sturm zu kämpfen hatte.
Serena griff nach Warrens Fernglas. Der Hubschrauber sank, und als sie nur noch zehn Meter entfernt waren, blickte der Mann zu ihnen auf. Bestürzt stellte sie fest, dass es nicht Conrad war. Es war einer der Ägypter, der eine Maschinenpistole im Anschlag hatte.
»Zurück, Admiral!«, rief sie.
»Wir kriegen ihn, keine Sorge«, sagte Warren. Serena blickte sich um und sah zwei Scharfschützen, die ihre Gewehre auf den Mann richteten. »Ich will ihn lebendig.«
Serena spürte einen Luftzug an ihrem Ohr und sah gleich darauf, wie der Ägypter von einer Kugel in die Schulter getroffen wurde und ins Wasser klatschte.
Warren nickte zufrieden. »Dichter ran.«
Als der Hubschrauber jedoch näher kam, richtete sich der Ägypter im Wasser wieder auf und fing an, wie wild um sich zu schießen.
Eine Kugel erwischte Warren, der an der offenen Luke stand, im Genick, und er fiel auf Serena; er war tot. Nur mit Mühe konnte sie seinen schweren Körper wegstoßen. Sie rief um Hilfe, aber als sie über die Schulter blickte, sah sie einen der amerikanischen Soldaten umfallen. Auch er war getroffen worden. Gleichzeitig hatten die Schüsse aus dem Maschinengewehr das Cockpit durchlöchert. Serena hörte den Piloten aufschreien.
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