Ja, sie wusste es und sträubte sich nicht, als sie schweigend die Plattform zum Rumpf der Sonnenbarke hinunterfuhren.
Als sie schließlich einige hundert Meter von der Rampe entfernt an die Oberfläche traten, bebte der Boden stärker als je zuvor. Kaum hatte er Serena aus dem Tunnel gezogen, schoss eine Feuerfontäne in die Luft, versengte ihr Haar und schleuderte beide über den Boden.
Er sah noch, wie ein Dutzend weitere Geysire rings um die Abschussrampe ausbrachen, als die Sonnenbarke aus dem Krater herausschoss und zum Himmel aufstieg. Conrad sah das Raumschiff mit seinem Vater an Bord, tot oder lebendig, im Universum verschwinden.
»Ich bete zu Gott, dass du weißt, was du tust, Conrad.« Serena riss ein Stück Schnürsenkel von ihrem Stiefel und band damit die versengten Haarspitzen nach hinten. »Das war nämlich die letzte Maschine ins All.«
Tagesanbruch 35 minus 2 Minuten
Serena stand in der Sternenkammer der P4. Die Tränen flossen ihr über die Wangen, und sie sah zu, wie sich das Deckengewölbe drehte. Der Lärm, den die knirschende Kuppel verursachte, war ohrenbetäubend. Sie verstand nicht, was Conrad sagte. Er stand neben dem Altar und machte ihr Zeichen, zu ihm herüberzukommen.
»Stell den Obelisken in den Sockel«, rief er ihr zu.
Sie betrachtete das Zepter des Osiris in ihrer Hand und las noch einmal leise die Inschrift darauf: Nur derjenige, der sich würdig erweist, zur rechten Zeit und am rechten Ort vor den Leuchtenden zu stehen, kann das Zepter des Osiris entfernen, ohne Himmel und Erde auseinander zu reißen. Gab es so jemand Würdiges unter den Menschen überhaupt? Oder hatte der hebräische Prophet Jesaja Recht, als er sagte, dass die menschliche Gerechtigkeit angesichts der Heiligkeit Gottes nur ein ›unflätig Kleid‹ sei?
»Yeats hatte Recht, Conrad«, sagte sie entmutigt. »Die Erbauer von Atlantis waren unserem Denken weit voraus. Wir haben keine Chance.«
»Ich dachte, wir wären uns einig, dass die ägyptischen Götter schon einmal besiegt worden sind«, sagte Conrad. Er sprach jetzt schneller und lauter. »Also, wann war das?«
Serena dachte nach. »Während des Exodus, als Moses die Israeliten aus Ägypten hinausführte.«
»Genau. Ein kosmisches Ereignis, das die Kulturgeschichte genauso verändern kann wie der Aufprall eines Meteoriten die Naturgeschichte. Ohne Exodus hätte es auch keine göttliche Erscheinung auf dem Berg Sinai gegeben. Und ohne Sinai gäbe es auch keinen Moses, Jesus oder Mohammed. Osiris und Isis wären die absoluten Herrscher, und die Skyline Manhattans bestünde aus Pyramiden. Wir würden statt Café Latte gegorenen Getreidesaft trinken.«
Serena spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Conrad hatte mit dem, was er da sagte, nicht ganz Unrecht.
»Die Frage ist nur«, fuhr Conrad mit glänzenden Augen fort, als stünde eine große Entdeckung bevor, »was hatte den Pharao dazu bewegt, es sich anders zu überlegen und die Israeliten ziehen zu lassen?«
»Passah«, sagte Serena. »Als der Gott der Israeliten die Erstgeborenen aller Ägypter erschlug, aber die Häuser der israelitischen Sklaven, die ihre Pfosten mit dem Blut eines Lammes bedeckt hatten, verschonte.«
»Genau«, sagte Conrad. »Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, dieses Passah allen Völkern zu ermöglichen.«
Es gab eine, schoss es Serena plötzlich in den Kopf, und es platzte förmlich aus ihr heraus: »Das Lamm Gottes!«
»Mein Gott, du hast Recht!«
Sofort fing Conrad an, die Sterne im Gewölbe neu einzustellen, sodass sie den Sternenhimmel über Jerusalem darstellten.
Im Nu schien sich der ganze Raum auf den Kopf zu stellen. Aber es war nur eine optische Täuschung, stellte Serena fest, weil die Gestirne der nördlichen und südlichen Hemisphäre ihre Position austauschten.
»So weit, so gut. Jetzt haben wir den Ort«, sagte Conrad. »Wir brauchen noch einen Zeitpunkt.«
Das war schon schwieriger, dachte Serena. »Laut Überlieferung starb Jesus im Alter von dreiunddreißig Jahren. Damit hätte die Kreuzigung zwischen den Jahren 30 und 33 unserer Zeitrechnung stattgefunden.«
»Das ist nicht genau genug.« Conrad wurde ungeduldig. »Ich brauche die genaue Jahreszahl.«
Serena kämpfte gegen die aufkommende Panik. Der christliche Kalender, von dem Mönch Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert erstellt, basierte auf falschen Zahlenangaben. Genauere Betrachtungen hatten ergeben, dass Dionysius die Geburt Christi einige Jahre zu spät angesetzt hatte. Heutzutage datierten die Kirchengelehrten die Geburt nicht später als das Jahr, in dem Herodes starb, also vier Jahre vor unserer Zeitrechnung.
»Neunundzwanzig«, sagte sie schließlich. »Nimm neunundzwanzig.«
Conrad stellte das Zepter auf dem Altar ein, und wieder drehte sich das Gewölbe. Wieder war das ohrenbetäubende Krachen zu hören. »Ich brauche jetzt noch den Tag«, rief er. »Und zwar sofort.«
Serena nickte. Die katholische Kirche feiert Ostern jedes Frühjahr zu einem anderen Zeitpunkt. Aber die orthodoxe Kirche hielt mit astronomischer Genauigkeit an dem historischen Datum fest. Das Konzil von Nizäa im Jahre 325 hatte das Dekret erlassen, dass Ostern am ersten Sonntag nach dem Vollmond der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche gefeiert werden musste, aber immer nach dem jüdischen Passahfest, um die biblische Reihenfolge der Kreuzigung und der Auferstehung einzuhalten.
»Freitag nach dem ersten Vollmond der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche.«
»Freitag?«, fragte er zweifelnd. »Nicht Sonntag?«
»Freitag«, beharrte sie. »Die Auferstehung war ein Zeichen des Triumphes über den Tod. Aber der größte Edelmut wurde bewiesen, als Jesus am Kreuz für die Sünden der Menschheit starb und seinen Feinden vergab.«
»In Ordnung. Jetzt die genaue Stunde.«
»In den Schriften steht, dass es die neunte Stunde war.«
Er sah sie verdutzt an. »Hä?«
»Drei Uhr.«
Conrad nickte, machte die letzten Einstellungen und trat dann zurück. »Beten Sie, Schwester Serghetti.«
Das Gewölbe drehte sich und rastete ein. Es stellte jetzt den Himmel über Jerusalem in der neunten Stunde des fünften Tages nach dem ersten Vollmond der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche im Jahre 29 dar.
»Jetzt zeigt sich die Gerechtigkeit aus dem Glauben, unabhängig von den Gesetzen«, betete sie leise und wiederholte die Worte, die der heilige Paulus zu den Römern gesprochen hatte.
Ein heftiger Ruck ging durch die Kammer, und sie sprang nach hinten. Der Boden tat sich auf, und der Altar fiel mit dem Obelisken den Schacht hinunter und verschwand. Noch bevor sie über den Rand schauen konnte, schloss sich der Schacht wieder. An der Stelle war nun eine Kartusche zu sehen, die das Osiris-Symbol trug. Von unten kam Donnerrollen.
Plötzlich war es unheimlich still. Serena hörte, wie jemand seufzte. Es klang wie das Seufzen eines jungen Mädchens. Sie spürte, wie ihr eine Träne über die Wange floss, und stellte fest, dass sie selbst das Mädchen war. Irgendwie fühlte sie sich innerlich auf einmal ganz rein, so als wären alle ihre Sorgen und Ängste und ihre Schuldgefühle weggespült worden.
»Du hast es geschafft«, sagte sie und umarmte Conrad. »Gott sei Dank.«
»Wie wär's, wenn wir jetzt hier rausgingen?«, sagte er. Von überall her erscholl ein tiefes, beunruhigendes Poltern. Plötzlich fielen die Türen der Kammer herab, und sie waren eingeschlossen.
Serena stand reglos da. »Conrad, was ist da passiert?«
»Ich glaube, wir sind jetzt zwei Meilen unter dem Eis lebendig begraben.«
36 Tagesanbruch
Vom Vorsprung des Tempels des Wassermanns aus sahen Zawas und seine Leute zu, wie die Sonnenbarke im Himmel verschwand. Die erste Druckwelle erreichte ihr Lager. Zelte brachen zusammen, und Zawas geriet in Panik, als er sah, wie sein einziger noch flugfähiger Helikopter über den Landeplatz auf den Abgrund zuschlitterte.
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