»Wir befinden uns hier in einer Art sonnenbetriebenem System«, sagte Yeats. »Diese gewaltigen Säulen sind ein Teil von vier unglaublich langen sonnenbetriebenen Rotorblättern. Wie die eines Helikopters, nur noch viel größer. Sobald wir auf der Flugbahn in den Weltraum sind und aus der Erdatmosphäre austreten, werden sie sich auffächern und das Sonnensegel ausrollen.«
Auf eine verrückte Art und Weise schien das alles logisch zu sein. Sie war offenbar schon gänzlich in Yeats' Gedankenwelt eingedrungen. Egal, wie wahnsinnig der ehemalige Astronaut war, er befand sich jedenfalls auf sicherem Terrain, und sie war in diesem Fall die Außenstehende.
»Wenn das Segel erst mal aufgezogen ist«, fuhr Yeats fort, »funktioniert es wie ein Spiegel mit hoher Reflexion. Wenn die Photonen auf die Oberfläche treffen, erzeugen sie durch Druck den Antrieb für das Segel. Je größer das Segel, umso größer die Kraft. Wir können den Spiegel in unterschiedliche Richtungen neigen, um die Antriebskraft auf diese Weise dorthin zu lenken, wo wir sie haben wollen.«
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass Sie dieses Ding steuern können?«
»Doch, und zwar wie Kolumbus seine Pinta«, erwiderte er. »Ich bin mir sicher, dass alle Daten – Laufbahnbestimmung, Stabilisierungswerte und Geschwindigkeitskontrolle – in dem Navigationssystem des Raumschiffs gespeichert sind.«
Serena schwieg. Die Plattform rastete ein. Mit der Spitze des Obelisken schob Yeats sie einen langen Gang hinunter, der an einer Metalltür mit eigenartigen Inschriften endete.
»Warum hätten sie das Schiff ausgerechnet so bauen sollen?«, hörte sie sich fragen. Sie musste ihn am Reden halten, sie musste Zeit gewinnen, damit sie sich überlegen konnte, wie sie ihn vom Starten abhalten konnte.
»Das können Sie die selbst fragen, wenn wir erst mal da sind. Vermutlich wurde das Schiff als eine Art Rettungsboot gebaut, das mit minimaler Energie weite Entfernungen überbrücken sollte. Das ist ja gerade das Schöne an diesem Schmuckstück: geringe Schubkraft, aber unendliche Antriebskraft, weil es keinen Treibstoff braucht. Das Sonnensegel ist das perfekte Antriebssystem für Reisen durchs All.«
»Abgesehen davon, dass es das Sonnenlicht braucht«, bemerkte Serena, »das uns aber nicht mehr zur Verfügung steht, sobald wir das Sonnensystem verlassen. Dann schunkeln wir in einem Segelboot aufwindstiller See.«
Yeats blieb an der Tür stehen und sagte: »Dann kommt die Schwerkraft zum Zuge.«
»Wie bitte?«
»Ja, so werden wir ohne Licht vorankommen«, sagte er. Er sprach so ruhig und vernünftig, dass sie Angst bekam und gleichzeitig wütend wurde. »Wir fliegen ganz dicht um den Jupiter herum, sodass wir seine Schwerkraft nutzen können, um uns in eine schnellere Laufbahn in Richtung Sonne zu katapultieren. Dann werden wir um die Sonne geschleudert und legen beim Austritt aus dem Sonnensystem weiter an Geschwindigkeit zu. Auf jeden Fall bin ich mir ziemlich sicher, dass dieses Ding hier eine ganze Menge Maser- und Laserpotenzial in sich hat, dessen Mikrowellen wiederum eine gewaltige Beschleunigung und den Antrieb der Segel erzeugen.«
»Sie scheinen ja tatsächlich selbst zu glauben, was Sie da sagen, Yeats. Wie lange werden wir denn unterwegs sein?«
Yeats überlegte. »Bei normaler Geschwindigkeit ungefähr ein Jahr.«
Ein Jahr?, dachte Serena. »Bei dieser Geschwindigkeit würden wir den nächsten Stern …«
»… irgendwann in einem Zeitraum zwischen 250 und 6.600 Jahren erreichen.«
Serena wollte gar nicht wissen, wie lange es dauern würde, bis sie im beabsichtigten Sonnensystem ankämen. Ganz zu schweigen davon, wer sie dort begrüßen würde. »Haben Sie sich schon überlegt, wie wir bis dahin am Leben bleiben?«
»Ja.«
Yeats steckte das Zepter in die Wand. Die Tür öffnete sich und gab den Blick in eine Kammer frei, in der kühler Nebel waberte. Serena starrte hinein und entdeckte in der hinteren Ecke so etwas wie einen offenen Sarg. Er hatte die Umrisse einer wohlgeformten Frau, die ungefähr Serenas Statur besaß.
»Sieht so aus, als ob die Erbauer an alles gedacht hätten«, sagte Yeats. »Willkommen in Ihrer Eisgruft.«
Bei Serena funkte es erst, als ihr klar wurde, dass Yeats von ihr erwartete, sich in diesen Kühlschrank hineinzulegen. Sie erstarrte und weigerte sich, in die Kammer einzutreten. Dann spürte sie eine feuchte Hand an ihrem Hals. Nicht um alles in der Welt würde sie dort hineingehen.
»Sie zuerst«, sagte sie. Sie trat Yeats mit dem Absatz fest auf die Zehen und stieß ihm den Ellbogen in den Unterleib.
Yeats stöhnte auf. Serena vollführte eine Drehung, trat mit dem Knie nach und versetzte ihm mit einer Doppelfaust einen heftigen Schlag auf den gekrümmten Rücken. Sie rappelte sich auf und rang nach Luft. Yeats ließ den Kopf hochschnellen und schlug gegen ihre Kinnlade, sodass ihr die Unterlippe platzte. Er richtete sich wieder auf. Serena taumelte rückwärts in die Kammer. Yeats hob den Kopf. In dem matten Licht kamen seine kalten, toten Augen zum Vorschein. Er hielt eine Pistole auf sie gerichtet.
»Sie können Ihr Gutenachtgebet aufsagen, Schwester.«
Mit ganzer Kraft quetschte Yeats sie in den Sarkophag, der sich wie Lehm um sie legte. Sie spürte, wie ein kaltes Kribbeln in ihr aufstieg. Es fing im Kreuz an, raste die Wirbelsäule hoch und breitete sich dann explosionsartig im ganzen Körper aus.
Plötzlich wurde alles taub. Sie war jetzt ganz ruhig, fast leblos, spürte aber noch ihren Herzschlag. Bald wurde auch der immer schwächer. Yeats schlug die Tür zur Grabkammer zu, und dann spürte sie gar nichts mehr.
Tagesanbruch 33 minus 20 Minuten
Als die mächtigen Steuerraketen der Sonnenbarke zu summen anfingen, spürte Conrad – der immer noch an die Säule gefesselt war –, wie die Wände der Rampe vibrierten. Die ölige Luft im Schiff sickerte nach außen und legte sich über ihn. Er merkte, wie sich alles aufheizte. Die Dachöffnung des versunkenen Heiligtums gab den Blick auf den bedeckten Himmel frei. Dann wurde die Öffnung größer, und Geröll und Felsbrocken fielen herab.
Conrad schloss die Augen, um sie vor dem herunterwirbelnden Staub zu schützen. Dann blickte er blinzelnd in den höhlenartigen Abschussschacht. Einen Moment lang konnte Conrad vor Rauch und Wirrwarr das Raumschiff nicht mehr sehen und fürchtete schon, dass es bereits abgehoben hatte. Dann teilte sich der Rauchvorhang, und sein Blick fiel auf das unwirkliche Bild der schimmernden Sonnenbarke. Auf dem Boden lag eine Kalaschnikow, die einer von Zawas' Soldaten bei ihrem panikartigen Rückzug offenbar hatte fallen lassen. Aber das Sturmgewehr lag mehr als zehn Meter weit entfernt und nutzte ihm deshalb in seiner momentanen Zwangslage rein gar nichts.
Es roch nach Rauch. Seine Augen fingen an zu brennen, seine Nase kribbelte vom Ruß. Er versuchte vergebens, sich zu befreien, und hustete in der rauchigen Luft. Ob nun mit oder ohne das Geheimnis der Urzeit, sagte er sich, das Zepter des Osiris war seine einzige Chance, die Sternenkammer in der P4 neu einzustellen, um dadurch die Erdkrustenverschiebung zu verhindern. Aber das Zepter war im Raumschiff. Er musste sich irgendwie befreien, um es sich zurückzuholen, bevor die Sonnenbarke abhob und ihn bei lebendigem Leib verbrannte.
Der Gedanke an Feuer erinnerte ihn an das Zippo-Feuerzeug, das Yeats ihm überlassen hatte. Es befand sich noch in seiner Brusttasche. Wenn er einen Weg fand, es herauszuholen, konnte er damit vielleicht die Fesseln durchbrennen. Conrad ließ sein Kinn auf die Brust fallen und zog mit den Zähnen seine Sonnenbrille heraus, die er in den Ausschnitt gehängt hatte. Dann führte er die Brille vorsichtig in seine Brusttasche, um damit das Feuerzeug herauszuheben. Nach kurzer Zeit gab er mit schmerzendem Genick auf. Die vibrierenden Maschinen in der Sonnenbarke brachten ihn jedoch dazu, es noch einmal zu versuchen.
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