Baylander zog seine dicken Handschuhe aus und legte zwei Finger auf die Halsschlagader des Mannes. Zu seiner Verwunderung spürte er einen ganz schwachen Pulsschlag.
39 2. Tag danach
Am Nachmittag darauf erwachte Conrad Yeats in einem Einzelzimmer der Krankenstation von McMurdo. Lange Zeit lag er ruhig da und wurde sich erst nach und nach bewusst, dass seine Hände bandagiert waren und seine Schulter sich in einer Schlinge befand. Und in seinem Kopf dröhnte es wie von Paukenschlägen. Mit einer verbundenen Hand betätigte er den Klingelknopf, aber die Navy-Krankenschwester, die hereinkam, beschied ihm lediglich, er solle still liegen bleiben.
Also blieb er liegen und rekonstruierte Stück für Stück die Geschehnisse des Tags zuvor bis zum Vormittag. Er nahm einen Stift in seine bandagierte Hand und fertigte eine Zeichnung an. Danach schlief er wieder ein. Als er erneut aufwachte, saß eine Frau an seinem Bett. Sie lächelte.
Er sah sie eindringlich an. »Genau wie in den Krankenzimmern früher – ein Bett und eine Schwester«, sagte er und versuchte zu lächeln, was aber ziemliche Schmerzen verursachte. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Wie lange sitzt du schon da?«
»Erst seit ein paar Minuten«, sagte Serena mit einem warmen Lächeln.
Conrad wusste, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Als er mitten in der Nacht einmal aufgewacht war, hatte er gesehen, wie sie im Sessel schlief. Er hatte gedacht, es wäre ein Traum gewesen. »Du lebst.« Er hielt ihr die Hand hin, und sie berührte seinen Verband.
»Und du auch, Conrad.«
»Und was ist mit den anderen?«
»Alles in Ordnung.« Eine Träne glänzte auf ihrer Wange. »Das haben wir dir zu verdanken.«
»Was ist mit Yeats?«
Sie schien sich anzuspannen. »Er dürfte schon am Pluto vorbei sein, könnte ich mir denken.«
»Glaubst du, dass das, was er über mich gesagt hat, verrückt war?« Conrad suchte ihren Blick.
»Auch nicht verrückter als eine verlassene Stadt unter dem Eis.«
Conrad überlegte. »Heißt das, ja, es ist verrückt, oder heißt das, nein, es stimmt?«
»Es gibt keine Stadt, Conrad«, sagte sie. »Die ganze Angelegenheit ist abgeschlossen. Ein für alle Mal. Vorbei. Klar?«
»Nicht ganz«, sagte er. »Ich habe eine Wahnsinnsentdeckung gemacht, Serena. Schau dir das mal an.«
Er zeigte ihr die grobe Skizze, die er von der Sonnenbarke angefertigt hatte.
Serena runzelte die Stirn. Sie sah dabei wunderschön aus.
»Sag mir jetzt bloß nicht, dass ich das erfunden habe, Serena.«
»Nein, Conrad. Ich habe das schon einmal gesehen. Das Washington Monument sah auf der zweihundert Jahre alten Originalzeichnung genauso aus, einschließlich des Rundbaus unten. Der fehlt heutzutage allerdings.«
Conrad starrte auf seine Skizze und stellte fest, dass Serena Recht hatte.
Er beschloss, möglichst bald nach Washington zu gehen. Der Nachlass seines Vaters befand sich dort, und außerdem würde er ein paar Dinge klären können. Eines dieser ungeklärten Dinge war zum Beispiel die Sache mit den Pentagon-Akten von den DARPA-Behörden.
In Conrads Kopf nahm schon eine neue Reise Gestalt an, aber Serena schien das gar nicht zu gefallen.
»Conrad, hör mal gut zu«, sagte sie sanft, fast verführerisch. »Du bist ein großartiger Archäologe, aber in allem anderen bist du ein lausiger Amateur. Du wirst nichts veröffentlichen. Überhaupt nichts. Weil es ganz einfach nichts zu veröffentlichen gibt. Kein Zepter des Osiris. Nichts. Das einzige Andenken an unser Wahnsinnsunternehmen ist die Sonchis-Karte, und die werde ich nach Rom mitnehmen, wo sie auch hingehört.«
Conrad blickte auf seinen Nachttisch. »Wo ist meine Kamera?«
»Welche Kamera?«
Er schwieg. »Was ist mit uns?«
»Uns wird es nicht geben. Das ist unmöglich. Verstehst du das denn nicht?« Ein schmerzlicher Ausdruck lag in ihrem Gesicht. »Du wirst gar nichts berichten. Du hast keinerlei Beweise. Die Stadt ist verschwunden. Das Einzige, was bleibt, ist unser Wort. Wenn du unbedingt reden willst, wird dir niemand glauben, außer vielleicht ein paar Freunde von Zawas im Nahen Osten, und die werden dann auf dich Jagd machen. Du wärst das Opfer deines eigenen Größenwahns. Du kannst froh sein, dass du am Leben bist.«
»Und was ist mit dir?«
»Ich bin eine der Direktoren der Australian Antarctica Preservation Society und Beraterin bei der United Nations Antarctica Commission und untersuche die Verletzungen der Umweltvereinbarungen des internationalen Antarktisvertrags.«
»Ist das alles?«
»Mein Team hat dich im Eis gefunden«, fuhr sie fort. »Da du der einzige Augenzeuge der angeblichen Ereignisse bist, ist alles, woran du dich erinnerst, höchst willkommen. Ich werde es in meinem Bericht für die Generalversammlung aufnehmen.«
»Du sollst also den Bericht schreiben?« Conrad konnte nur müde lächeln. Natürlich. Wer sonst hatte schon das internationale Ansehen oder Engagement bezüglich der Erhaltung dieses riesigen, unberührten weißen Kontinents?
Serena erhob sich, um zu gehen. Sie blickte liebevoll auf ihn hinab, aber ihre Körperhaltung drückte Entschlossenheit aus. »Du Glückspilz.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Backe. »Du hast einen Schutzengel gehabt.«
»Bitte, geh nicht weg.« Er meinte es wirklich. Er fürchtete, sie nie wiederzusehen.
Sie hatte die Hand bereits an der Türklinke, drehte sich aber noch einmal um. »Lass dir von Mutter Erde einen guten Rat geben, Conrad«, sagte sie tapfer. Er merkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Geh in die Staaten zurück, vögele mit ein paar von deinen Studentinnen und bleibe bei deinen Uni-Vorträgen und bei deinem billigen Touristenspuk. Vergiss alles, was du hier gesehen hast. Vergiss mich.«
»Einen Teufel werde ich tun«, sagte er, als sie die Tür hinter sich schloss.
Er blickte ins Leere. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er dachte über Serena nach.
Dann kam eine Schwester herein, und der Bann war gebrochen. »Ein Telefongespräch für Sie. Ach ja, der Arzt hat gesagt, dass sie ruhig Kaffee trinken können, wenn Sie wollen. Ich habe ewig gebraucht, bis ich Ihre Thermosflasche gefunden habe.«
»Sie hat ausschließlich nostalgischen Wert«, sagte er, als die Schwester die grüne Flasche auf seinen Nachttisch stellte. »Nett, dass Doktor Serghetti sie für mich aufgehoben hat. Ich hoffe, Sie haben sie so wie besprochen ersetzt.«
»Ja, ich habe ihr wieder genau so eine eingepackt und dazu das kleine Geschenk von Ihnen hineingesteckt«, sagte sie. »Ich komme gleich mit dem Kaffee zurück.«
»Danke«, sagte er, als die Krankenschwester hinausging.
Er sah die Thermosflasche nachdenklich an und nahm dann unbeholfen den Hörer zwischen seine verbundenen Hände.
Mercedes, die Produzentin von ›Rätsel des Altertums‹ aus Los Angeles, lachte ins Telefon. Ihre letzte Begegnung in Nazca war vergessen und vergeben. »Ich habe gerade die Nachrichten im Internet gesehen«, sagte sie. »Was ist da unten passiert? Ist alles in Ordnung?«
Conrad drückte den Hörer an seine unversehrte Schulter. Seltsamerweise war er irgendwie zufrieden. »Mir geht's gut, Mercedes.«
»Super. Wann sind Sie wieder einsatzfähig?«
Die Tür ging einen Spalt auf, und Conrad sah, dass draußen zwei Militärpolizisten der Navy Wache standen. »Lassen Sie mir noch ein paar Tage Zeit. Warum fragen Sie?«
»Die Reißer im Fernsehen sind jetzt vorbei, und die Sender brauchen Lückenfüller. Wir haben uns eine Sondersendung direkt auf Ihrer Wellenlänge ausgedacht. ›Luxor‹ – wie hört sich das an?«
Conrad seufzte. »Schon da gewesen, alles abgehakt.«
»Stellen Sie sich doch mal vor, Sie stehen auf den Überresten einer Sklavenstadt«, sagte Mercedes. »Sie enthüllen der Welt, dass der Exodus tatsächlich stattgefunden hat. Als Beweis haben wir sogar eine Statuette von Ramses II. aus der 19. ägyptischen Dynastie. Sie kriegen das doppelte Honorar. Sie müssen nur die Sache mit den Ägyptern wieder ausbügeln. Wann können Sie anfangen?«
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