Also hatte es doch etwas mit Conrad zu tun! Allerdings in einem völlig unerwarteten Zusammenhang. »Was könnte der amerikanischen Armee ein Archäologe nützen?«
Der Papst schwieg, und Serena begriff augenblicklich, dass der Vatikan sie als Sprachwissenschaftlerin, nicht als Umweltbeauftragte benötigte. Das alles bedeutete, dass die Amerikaner in der Antarktis etwas gefunden hatten. Etwas, was die Sachkenntnis von Archäologen und Sprachwissenschaftlern erforderte. Etwas, was den Vatikan eindeutig erschüttert hatte. Der Papst hatte sich nur deshalb an sie gewandt, weil er keine andere Wahl hatte. Offensichtlich standen die Amerikaner wegen dieser Angelegenheit nicht mit ihm in Kontakt. Was vielleicht nicht geschadet hätte, dachte sie.
»Sie möchten mir etwas zeigen, stimmt's, Heiliger Vater?«
»Ja.« Mit knotigen Händen rollte der Papst die Kopie einer mittelalterlichen Karte auf seinem Schreibtisch aus. Sie stammte aus dem Jahr 1513. »Diese Karte wurde 1929 im Herrscherpalast des ehemaligen Konstantinopel entdeckt. Sie gehörte einem türkischen Admiral.«
»Admiral Piri Reis«, sagte sie. »Es ist die Piri-Reis-Karte.«
»Ach, Sie kennen sie?« Der Papst wiegte den Kopf. »Dann kennen Sie das hier sicherlich auch.«
Er reichte ihr einen alten Bericht der U.S. Air Force vom 6. Juli 1960, Deckname PROJECT BLUE BOOK.
»Das ist mir nicht bekannt«, sagte sie und griff interessiert nach dem dünnen Ordner. »Seit wann hat der Vatikan Zugang zu geheimen Dokumenten des amerikanischen Militärs?«
»Zu diesem Bericht hier? Das ist wohl kaum eine Verschlusssache. Der Nachtrag hier schon eher.«
Sie blätterte die Seiten durch, die vom Chef der kartografischen Abteilung der Air Force Base in Westover, Massachusetts, verfasst worden waren. Die Luftwaffenoffiziere schlussfolgerten, dass die auf der Piri-Reis-Karte eingezeichneten Teile der Antarktis genau die Kronprinzessin-Martha-Küste und die Palmer-Halbinsel darstellten.
Ihr Blick blieb auf der letzten Seite ruhen, wo ein gewisser Lieutenant Colonel Harold Z. Ohlmeyer vom 8. Aufklärungsgeschwader Folgendes geschrieben hatte:
Die geografischen Details auf dem unteren Teil der Karte stimmen außergewöhnlich genau mit dem seismischen Profil der Eisschicht überein, das die schwedisch-britisch-norwegische Antarktisexpedition im Jahr 1949 erstellt hat. Das weist darauf hin, dass die Küstenlinie kartografisch erfasst worden war, bevor sie von einer Eisschicht bedeckt wurde. Das Eis in dieser Region ist jetzt etwa eine Meile dick. Es ist uns nicht bekannt, wie sich die Daten dieser Karte mit dem vermutlichen Stand des geografischen Wissens im Jahre 1513 vereinbaren lassen.
Es folgte ein von Colonel Griffin Yeats in kraftvoller Handschrift verfasster Nachtrag des Pentagons aus dem Jahr 1970. Serena wusste, dass es sich dabei um Conrads Vater handelte. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf. In der Notiz stand:
Alle zukünftigen die Piri-Reis-Karte und das SONCHIS-PROJEKT betreffende Berichte müssen der hiesigen Stelle vorgelegt und dementsprechend unter Verschluss gehalten werden.
»Sonchis«, sagte sie und klappte den Ordner wieder zu.
»Hat das irgendeine Bedeutung?«
»Es gab einmal einen ägyptischen Priester namens Sonchis, der Solon, wie von Platon überliefert, einen ausführlichen Bericht über Atlantis gegeben haben soll.«
»Auf der Karte von Admiral Reis steht, dass sie auf Karten noch früheren Ursprungs zurückgeht, nämlich aus der Zeit Alexanders des Großen.«
»Was genau meinen Sie damit, Heiliger Vater?«
»Nur eine hochentwickelte, weltweit agierende Seefahrerkultur, die vor mehr als zehntausend Jahren existiert haben müsste, hätte diese ursprünglichen Karten herstellen können.«
Serena kniff die Augen zusammen. »Ihr glaubt, dass die Antarktis nichts anderes als Atlantis ist?«
»Und ihr Geheimnis ist zwei Meilen unter dem Eis begraben«, sagte er. »Hier haben wir es nicht einfach nur mit einer erloschenen Zivilisation aus der Vorzeit zu tun, sondern mit der verlorenen Urkultur, die Ihr Freund, Doktor Yeats, sucht. Eine Kultur, die über wissenschaftliche Kenntnisse verfügt, die wir erst noch begreifen müssen.«
»Sollte sich das alles bewahrheiten, wird das vieles infrage stellen«, sagte Serena. »Unter anderem auch die kirchliche Auslegung der Schöpfungsgeschichte.«
»Oder aber es wird sie bestätigen«, sagte der Papst, der dabei aber nicht sehr hoffnungsvoll klang. »Sollte das der Fall sein, wird es für uns alle unangenehme Folgen haben.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Heiliger Vater.«
»Gott hat mir über das Ende der Welt eine Prophezeiung gemacht«, sagte er. »Aber ich habe sie der Kirche noch nicht enthüllt, weil sie zu entsetzlich ist.«
Serena saß auf der Stuhlkante. Von ihren grundsätzlichen Bedenken einmal abgesehen, schien der Papst eindeutig im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und bei klarem Verstand zu sein. »Was haben Sie gesehen, Heiliger Vater?«
»Eine wunderschöne, ins Eis gefrorene Rose«, sagte der Papst. »Dann bekam das Eis Risse, und aus den Rissen loderte Feuer, und die Söhne Gottes führten einen Krieg gegen die Kirche und die ganze Menschheit. Zu guter Letzt schmolz das Eis, und Tränen liefen über die Blütenblätter der Rose.«
Serena musste an das sechste Kapitel der Genesis denken, in dem es heißt, dass in grauer Vorzeit die ›Söhne Gottes‹ die Menschenfrauen schwängerten. Ihre Abkömmlinge richteten so viel Unheil an, dass Gott sie und die ganze Menschheit in der Sintflut vernichtete, außer Noah und dessen Familie. Aber Serena wusste auch, dass apokalyptische Visionen, ob sie nun aus der Bibel oder aus dem Mund portugiesischer Hirtenmädchen stammten, die Zukunft nicht in äußerster Klarheit und Schärfe beschrieben. Vielmehr fassten sie allgemeine Zukunftsvisionen zusammen und stellten sie vor einen zeitlosen Standardhintergrund von Symbolen, die der Deutung bedurften.
»Der Heilige Vater glaubt also, dass diese Vision, der Mythos von Atlantis und die gegenwärtige amerikanische Operation in der Antarktis in engstem Zusammenhang stehen?«
»Ja.«
Sie versuchte ihre Zweifel zu kaschieren, aber jedes Element für sich genommen spottete jeder Wahrscheinlichkeit. »Verstehe.«
»Nein, Sie verstehen gar nichts«, sagte der Papst. »Schauen Sie sich das hier genauer an.« Er hielt eine Pergamentrolle in der Hand. »Das hier ist eine der ursprünglichen Karten, die Admiral Reis vermutlich benutzte. Die Karte schlechthin.«
Serena nahm sie dem Papst vorsichtig ab. Kaum hielt sie die Karte selbst in der Hand, spürte sie, wie eine erwartungsvolle Spannung von ihr Besitz ergriff.
»Hier steht zwar Sonchis' Name drauf«, sagte der Papst. »Aber der Rest des Schriftstücks ist aus der vorminoischen Zeit.«
»Geben Sie mir ein paar Wochen Zeit …«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten es auf dem Weg in die Antarktis entschlüsseln«, sagte der Papst. »Ich lasse gerade einen Privatjet auftanken.«
»Für mich? Aber Sie haben es doch selbst gesagt, Heiliger Vater. Die Stadt liegt, wenn sie denn wirklich existiert, zwei Meilen unter dem Eis. Genauso gut könnte sie auf dem Mars sein.«
»Die Amerikaner haben sie entdeckt«, sagte der Papst fest. »Jetzt müssen Sie nur noch die Amerikaner finden. Bevor es zu spät ist.«
Der Papst legte eine Hand auf den Globus und die andere auf die Himmelskugel zu seiner Linken.
»Derartige Globen wurden 1648 von Joan Blaen, dem Sohn des großen holländischen Kartografen Willem Blaeu, gemalt. Sie bildeten damals die ›moderne Welt‹ ab. Leider wurden Himmel und Erde völlig falsch dargestellt. Schauen Sie, Kalifornien ist eine Insel.«
Sie blickte auf die Erdkugel mit ihren Ungeheuern im Meer. »Die Arbeit Blaeus ist mir wohl bekannt, Heiliger Vater.«
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