»Alles, was man damals für wahr und richtig hielt, hat sich als falsch erwiesen«, antwortete er. »Eine Warnung, dass die Welt, so wie wir sie heute sehen, in ein paar Jahrhunderten wahrscheinlich genauso falsch aussehen wird. Oder schon in ein paar Tagen.«
»In ein paar Tagen?«, sagte Serena. »Ihre Prophezeiung könnte in ein paar Tagen in Erfüllung gehen, aber Sie haben die Kirche nicht darüber in Kenntnis gesetzt?«
»Die geistlichen, politischen und militärischen Konsequenzen wären beängstigend, Schwester Serghetti«, sagte der Papst. Er sprach sie weiter wie eine Nonne an, wie ein Mitglied der Gemeinschaft, nicht wie eine Außenstehende. »Überlegen Sie doch nur, was geschähe, wenn auf der Welt moralische Anarchie herrschte, weil die Menschheit die jüdisch-christliche Tradition fallen gelassen hätte.«
»Darüber habe ich sehr wohl nachgedacht, Heiliger Vater. Dieser Tag ist für den Rest der Menschheit außerhalb Roms schon lange gekommen.«
Der Papst blieb einen beklemmenden Augenblick lang stumm. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Haben Sie sich nie gefragt, warum Sie ursprünglich einer so sicheren und verlässlichen Ersatzfamilie wie der Kirche beigetreten sind?«
Serena schwieg. Dieser Frage war sie bisher immer ausgewichen. Um die Wahrheit zu sagen, sie glaubte trotz ihrer offenen Meinungsverschiedenheit mit der Kirche, dass diese eine Hoffnung für die Menschheit darstellte, die einzige Institution, die verhindern konnte, dass die Welt moralisch aus den Fugen geriet.
»Vielleicht fiel es Ihnen als Nonne leichter, mit Gott in Einklang zu sein. Vielleicht suchten Sie nach der unbedingten, über jeden Zweifel erhabenen Gewissheit, dass Er sie annimmt.«
Der Papst kam der Wahrheit so nahe, dass es Serena fast nicht mehr im Zimmer aushielt. Sie wollte weglaufen und sich verstecken.
»Nicht durch meine guten Taten, Heiliger Vater, sondern einzig durch Gottes Gnade und Christi Sühnetod am Kreuz wird meine Seele gerettet.«
»Genau das meine ich doch«, sagte der Papst. »Was wollen Sie dem noch hinzufügen?«
Die Leere in Serenas Innerem war wie ein dumpfer Schmerz. Sie konnte die Frage des Papstes nicht beantworten, wollte aber etwas sagen, egal was. »Mich in die Antarktis zu verbannen, um die Amerikaner zu entlarven, wird mich auch nicht …«
»… endlich Ihrer Berufung als Mutter Erde würdig erweisen?« Der Papst sah sie an wie ein Vater seine Tochter. »Schwester Serghetti, ich möchte, dass Sie in die ›letzte Wildnis‹ der Natur gehen, um Gott zu finden – weit weg von dem allen hier.« Er deutete auf die Bücher und Karten und Kunstwerke. »Nur Sie und der Schöpfer des Universums. Und Doktor Yeats.«
Entdeckung plus 23 Tage, 6 Stunden 4 Eisstation Orion
Die Kommandozentrale der Eisstation Orion war eine Kapsel mit niedriger Decke, die voll gestopft mit Konsolen und Mitgliedern der Crew war, die im Dunkeln auf ihre flimmernden Monitore schauten. Für Generalmajor Griffin Yeats war sie ein Triumph der Air-Force-Logistik. Sie war in weniger als drei Wochen auf dem wohl unbekanntesten Terrain des Planeten Erde errichtet worden.
»Noch dreißig Sekunden, General Yeats«, sagte Colonel O'Dell, Yeats' stiernackiger Erster Offizier aus dem Dunkel über seiner beleuchteten Konsole.
Auf dem großen Bildschirm war die Antarktis abgebildet. Aus dem All sah der eisbedeckte Kontinent unwirklich blau aus: eine große Insel, umgeben von den Weltozeanen und einem äußeren Ring aus Landmassen, der Nabel der Welt.
Ungläubig starrte Yeats auf den Bildschirm. Genau dieses Bild der südlichen Hemisphäre hatte er schon einmal aus dem Fenster einer Apollo-Kapsel gesehen. Das war schon eine Ewigkeit her, aber dennoch, manche Dinge veränderten sich eben nie. Ihn ergriff ein Gefühl von Ehrfurcht.
»Satellit in fünfzehn Sekunden in Position, Sir«, sagte O'Dell.
Einen Augenblick lang war das Videobild unscharf. Dann sprang eine riesige Sturmwolke ins Bild. Yeats sah etwas, das wie Spinnenbeine aussah und im Uhrzeigersinn um die Antarktis wirbelte. Es waren zwölf solcher Beine oder ›Perlenschnüre‹ – Tiefdruckfronten, typisch für diese Region.
»Ein Wahnsinnssturm«, sagte Yeats. »Geben Sie mir die Brille.«
»Sieht so aus, Sir, als hätten wir vier verschiedene Sturmfronten, die sich zu einem Tief zusammenbrauen«, berichtete O'Dell. »Fast viertausend Meilen breit. Groß genug, um die gesamten Vereinigten Staaten abzudecken.«
Yeats nickte. »Die Landebahn muss noch mal geräumt werden.«
Es wurde still im Raum, nur das leise Summen und Fiepen der Computer und Monitore war zu hören. Yeats merkte, wie ihn seine Offiziere anstarrten.
O'Dell räusperte sich. »Sir, wir sollten 696 warnen.«
»Nichts da. Ich will Funkstille.«
»Aber Sir, Ihr … Doktor Yeats ist an Bord.«
»In diesem Flugzeug sind vierzig Leute, Colonel. Und Lieutenant Colonel Lundstrom ist ein ausgezeichneter Pilot. Keine Funkverbindung. Rufen Sie mich, sobald sie landen.«
»Jawohl, Sir!« O'Dell salutierte, und Yeats verließ die Kommandozentrale.
***
In General Yeats' Quartier rahmte ein bis zum Boden reichendes Fenster die gähnende Eisschlucht draußen ein und bot ihm einen Logenplatz mit Blick auf die Ausgrabungen. Aus der Tiefe wogten Säulen bläulicher Kristallschwaden hoch. Dort lag all das, wonach er und Conrad immer gesucht hatten.
Yeats goss sich einen Jack Daniel's ein und setzte sich an den Schreibtisch. Er hatte rasende Schmerzen und hätte am liebsten geheult wie die Fallwinde draußen. Aber er konnte es sich nicht leisten, dass ihn O'Dell und die anderen nicht in Bestform sahen.
Er legte den rechten Stiefel auf den Tisch und zog die Hosenbeine hoch, sodass ein vernarbter und verkrüppelter Unterschenkel zum Vorschein kam, sein Abschiedsgeschenk von seinem ersten Auftrag in dieser Eishölle vor mehr als dreißig Jahren. Ein paar Zentimeter unter dem Knie spürte er den pochenden Schmerz. Die Kälte hier unten spielte ihm teuflische Streiche.
Aber egal. Es war gut, wieder ein Kommando innezuhaben, dachte er, als er sein schemenhaftes Spiegelbild im gepanzerten Plexiglasfenster erblickte. Selbst jetzt, mit über sechzig Jahren, machte er als Befehlshaber noch eine gute Figur. Die meisten Milchgesichter in der Station hatten keine Ahnung, wer er damals gewesen war. Beziehungsweise wer er hätte sein sollen.
Griffin Yeats hätte der erste Mensch auf dem Mars sein sollen.
Der Gemini- und Apollo-Veteran war 1968 für diesen Job ausgewählt worden. Der Mars-Shuttle – ursprünglich 1953 vom Raumfahrtpionier Wernher von Braun entwickelt und später von NASA-Konstrukteuren verbessert – hätte am 12. November 1981 die amerikanische Raumstation Freedom verlassen, am 9. August 1982 den roten Planeten erreichen und ein Jahr später wieder zur Erde zurückkehren sollen.
Wenn auf die Politik nur genauso Verlass wäre wie auf die Umlaufbahnen der Planeten.
1969 hatte der Vietnamkrieg den Bundesetat erheblich geschwächt, und die Mondlandung hatte vorübergehend den amerikanischen Hunger nach der Erkundung des Alls gestillt. Der Kongress war gegen die Marsmission, und auch Präsident Nixon lehnte sie und das sonstige Raumfahrtprogramm ab. Nur die Spaceshuttles bekamen grünes Licht. Diese katastrophale Entscheidung warf das Marsprojekt um Jahrzehnte zurück, hinterließ ein aufgemotztes Spaceshuttle ohne wirklichen Verwendungszweck und rangierte eine führungslose NASA in Washington auf das politische Abstellgleis.
Außerdem machte diese Entscheidung Yeats' Träume vom Ruhm zunichte.
Das Summen der Gegensprechanlage riss Yeats aus seinen Gedanken. Es war O'Dell, der sich aus der Kommandozentrale meldete. »Sir, wir haben sie auf dem Radar. Noch zwanzig Minuten bis zur Landung.«
»Wie weit sind wir mit der Landebahn?«
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