Sie griff wortlos danach und zielte sofort wieder auf ihn.
«Was haben Sie aus Ihrer Tochter gemacht, Herr Va-das? Sie würde für Sie töten, ja, aber ich habe den Eindruck, dass sie zu impulsiv und ohne ausreichenden Grund handelt.«
Vadas trat zwischen Bourne und seine Tochter, drückte ihre Waffe mit einer Hand herunter.»Ich habe schon genügend Feinde, Annaka«, sagte er leise.
Annaka steckte die Pistole weg, aber Bourne sah in ihrem Blick weiter Feindseligkeit blitzen.
Vadas wandte sich an Bourne.»Hätten Sie Alexej ermordet, wäre das zweifellos die Tat eines Verrückten gewesen. Und trotzdem scheinen Sie das genaue Gegenteil eines Wahnsinnigen zu sein.«
«Man hat die Morde mir angehängt, damit der wahre Täter auf freiem Fuß bleiben konnte.«
«Interessant. Weshalb?«
«Um das rauszukriegen, bin ich hergekommen.«
Vadas starrte Bourne an. Dann sah er sich um, hob die Arme.»Wäre Alexej am Leben geblieben, hätte ich mich hier mit ihm getroffen, wissen Sie. Diese Kirche ist für uns Ungarn von großer geschichtlicher Bedeutung. Im frühen vierzehnten Jahrhundert hat hier Budas erste Pfarrkirche gestanden. Die riesige Orgel auf der Empore hat bei beiden Hochzeiten König Matthias’ gespielt. Die beiden letzten ungarischen Könige, Franz Joseph I. und Karl IV, wurden hier gekrönt. Ja, dies ist geschichtsträchtiger Boden, und Alexej und ich wollten hier Geschichte machen.«
«Mit Hilfe von Dr. Felix Schiffer, stimmt’s?«, fragte Bourne.
Vadas hatte keine Zeit mehr, seine Frage zu beantworten. Im nächsten Augenblick hallte ein Schuss durch den weiten Kirchenraum, und er taumelte mit hochgerisse-nen Armen rückwärts. Blut sickerte aus einer Einschusswunde mitten in seiner Stirn. Bourne stürzte sich auf Annaka, begrub sie auf dem Marmorboden unter sich. Vadas’ Männer warfen sich herum, liefen auseinander und begannen zu schießen, während sie in Deckung flüchteten. Einer von ihnen wurde sofort getroffen: Er schlitterte über den Steinboden und war tot, bevor er aufschlug. Der zweite Mann erreichte den Rand einer Bankreihe und bemühte sich verzweifelt, hinter sie zu gelangen, als auch er von einer Kugel in die Wirbelsäule gefällt wurde. Er bäumte sich auf, und sein Revolver krachte zu Boden.
Von dem dritten Mann, der eben in Deckung ging, sah Bourne zu Vadas hinüber, der in einer größer werdenden Blutlache auf dem Rücken lag. Er bewegte sich nicht mehr, sein Brustkorb ließ keine Atmung mehr erkennen. Weitere Schüsse lenkten Bournes Aufmerksamkeit wieder auf den dritten Mann, der sich jetzt aus geduckter Haltung erhob und mehrmals in Richtung Orgelempore schoss. Plötzlich warf er den Kopf zurück und breitete die Arme weit als, während ein Blutfleck auf seiner Brust sich rasch vergrößerte. Er griff sich noch an die Wunde, verdrehte aber bereits die Augen nach oben.
Bourne blickte zu der düsteren Empore auf, glaubte einen noch dunkleren Schatten zu erkennen, griff sich die Pistole des ersten Mannes und drückte ab. Steinsplitter spritzten. Im nächsten Augenblick rannte er mit An-nakas Stablampe in der Hand zu der steinernen Wendeltreppe, die zur Empore hinaufführte. Annaka konnte sich endlich aufrichten und das Chaos um sie herum in Augenschein nehmen. Sie sah ihren Vater leblos daliegen und schrie entsetzt auf.
«Zurück!«, rief Bourne.»Das ist zu gefährlich!«
Annaka ignorierte ihn und beugte sich über ihren Vater.
Bourne gab ihr Feuerschutz, indem er nochmals ins Dunkel der Orgelempore schoss, und war nicht überrascht, als sein Feuer nicht erwidert wurde. Der Attentäter hatte sein Ziel erreicht; vermutlich war er längst auf der Flucht.
Nun war keine Zeit mehr zu verlieren. Bourne hetzte die Wendeltreppe zur Empore hinauf. Als er dort eine leere Patronenhülse liegen sah, rannte er weiter. Auf der Empore war anscheinend niemand. Ihr Boden bestand aus Steinplatten, und die Wand hinter der Orgel war reich aus Holz geschnitzt. Bourne warf einen Blick dahinter, aber dieser Raum war leer. Er kontrollierte den Boden um die Orgel herum, dann die Holzwand. Der Spalt um eines der Paneele schien sich von den anderen zu unterscheiden, war auf einer Seite mehrere Millimeter breiter…
Als er ihn mit den Fingerspitzen abtastete, zeigte sich, dass dieses Paneel in Wirklichkeit eine schmale Tür war. Dahinter lag eine steil nach oben führende Wendeltreppe. Mit schussbereiter Pistole stieg Bourne die Steinstufen hinauf, die vor einer weiteren Tür endeten. Als er sie aufstieß, sah er, dass sie aufs Kirchendach hinausführte. Sobald er den Kopf ins Freie steckte, schlug ein Geschoss neben ihm ein. Er wich hastig zurück, sah aber noch eine Gestalt, die sich über das extrem steile Ziegeldach von ihm wegbewegte. Um alles schlimmer zu machen, hatte es zu regnen begonnen, sodass die Dachpfannen rutschig waren. Positiv war jedoch, dass der Attentäter zu sehr damit beschäftigt war, das Gleichgewicht zu bewahren — er konnte nicht riskieren, noch einmal zu schießen.
Da Bourne erkannte, dass die Sohlen seiner neuen Stiefel rutschen würden, zog er sie aus und ließ sie über die Brüstung fallen. Dann bewegte er sich auf allen vieren übers Dach. Dreißig Meter unter ihm, aus seiner Perspektive in gähnender Tiefe, lag der Platz um die Matthiaskirche im schwachen Lichtschein altmodischer Straßenlaternen. Bourne krallte sich mit Fingern und Zehen fest und verfolgte den Attentäter. Unterschwellig vermutete er, der Unbekannte sei Chan — aber wie hätte er vor ihm in Budapest eintreffen können und weshalb hätte er statt Bourne Vadas erschießen sollen?
Als er den Kopf hob, sah er, dass die Gestalt zum Südturm unterwegs war. Bourne war entschlossen, ihn zu stellen, und beeilte sich, ihm zu folgen. Die Dachziegel waren alt und porös. Eine Pfanne zerbrach unter seinem Griff der Länge nach und blieb in seiner Hand, sodass er einen Augenblick, wild mit den Armen rudernd, ums Gleichgewicht kämpfte. Sobald er es zurückgewonnen hatte, warf er den Ziegel weg, der drei Meter unter ihm auf dem Dach eines kleinen Kapellenanbaus zerschellte.
Sein Verstand eilte voraus. Der für ihn gefährlichste Augenblick stand bevor, wenn der Attentäter die sichere Zuflucht des Südturms erreichte. Befand Bourne sich dann noch in exponierter Lage auf dem Dach, konnte der Unbekannte ihn in aller Ruhe aufs Korn nehmen. Der Regen war stärker geworden, er machte die Dachplatten rutschiger und verschlechterte die Sicht. Der Südturm war kaum mehr als eine fünfzehn Meter entfernte schemenhafte Silhouette.
Bourne hatte drei Viertel des Weges bis zum Südturm zurückgelegt, als er etwas hörte — das Klirren von Metall auf Stein — und sich flach aufs Dach drückte. Wasser strömte über ihn hinweg, und er glaubte, ein an seinem Ohr vorbeisurrendes Geschoss zu hören, bevor die Dachziegel neben seinem rechten Knie explodierten, wobei er den Halt verlor. Er rutschte über das steile Dach hinunter und fiel über den Rand.
Er ließ seinen Körper instinktiv locker, und als er mit der linken Schulter aufs Kapellendach prallte, rollte er sich zu einer Kugel zusammen und benützte seinen Schwung, um sich übers Dach zu wälzen und so die Bewegungsenergie aufzuzehren. Er blieb, an ein buntes Glasfenster gelehnt, liegen, wo er außer Sichtweite des Attentäters war.
Als er nun den Kopf hob, stellte er fest, dass er nicht weit von dem Kirchturm entfernt war. Dicht vor ihm ragte ein niedrigerer Turm mit einer ihm zugekehrten schmalen Fensteröffnung auf. Dieses mittelalterliche Fenster war unverglast. Er zwängte sich hindurch, stieg eine steile Wendeltreppe hinauf und gelangte so auf eine schmale Steinbalustrade, die direkt zum Südturm hinüberführte.
Bourne konnte nicht abschätzen, ob der Attentäter ihn sehen würde, wenn er die Balustrade überquerte. Er holte tief Luft, stürmte aus der Tür, spurtete über die schmale Steinbalustrade. Als er vor sich eine schemenhafte Bewegung sah, rollte er sich zu einer Kugel zusammen, während ein Schuss knallte. Im nächsten Augenblick war er schon wieder auf den Beinen, und bevor der Attentäter den nächsten Schuss abgeben konnte, war er in der Luft und gelangte diesmal mit einem Hechtsprung durch das offene Turmfenster vor ihm.
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