Weitere Schüsse hallten ohrenbetäubend laut, und Steinsplitter umsummten ihn, als er die Wendeltreppe im Inneren des Turms hinaufhetzte. Über sich hörte er ein metallisches Klicken, das ihm sagte, dass sein Gegner seine Munition verschossen hatte. Er nahm jetzt zwei Stufen auf einmal, um diesen vorübergehenden Vorteil auszunützen. Er hörte ein weiteres metallisches Klirren, dann kam eine leere Patronenhülse sich überschlagend die Steintreppe herabgehüpft. Ohne sein Tempo zu verringern, krümmte er den Rücken, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Je länger kein Schuss mehr fiel, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, den Attentäter einzuholen.
Mit Wahrscheinlichkeiten konnte er sich nicht begnügen, er musste sich Gewissheit verschaffen. Er richtete Annakas Stablampe nach oben, schaltete sie ein. Er sah sofort Spuren eines verschwindenden Schattens auf den Stufen über ihm und verdoppelte seine Anstrengungen. Die Lampe schaltete er wieder aus, um dem Attentäter seine Position nicht zu verraten.
Sie befanden sich jetzt in achtzig Metern Höhe dicht unterhalb der Turmspitze. Hier gab es für den Unbekannten keinen Fluchtweg mehr. Er würde Bourne erledigen müssen, um sich aus dieser Falle zu befreien. Seine Verzweiflung würde ihn gefährlicher und zugleich risikobereiter machen. Von Bourne hing es ab, wie er diese Risikobereitschaft zu seinem Vorteil nutzte.
Über sich konnte er sehen, wo der Turm mit einer runden Plattform endete, die von hohen Steinbogen umgeben war, die Wind und Regen ungehindert einließen. Bourne machte Halt. Ihm war bewusst, dass er riskierte, in einen Kugelhagel zu geraten, wenn er seinen Sturmlauf fortsetzte. Und trotzdem durfte er hier nicht bleiben.
Er legte die Stablampe schräg nach oben gerichtet auf eine Stufe über sich, drückte sich flach an die Wand, zog den Kopf ein, machte einen möglichst langen Arm und schaltete die Lampe ein.
Der dadurch ausgelöste Kugelhagel krachte ohrenbetäubend laut. Noch während das Echo der Schüsse durch den Turm hallte, stürmte Bourne die restlichen Stufen hinauf. Er hatte darauf gesetzt, dass der Attentäter aus Verzweiflung sein gesamtes Magazin leer schießen würde, wenn er glaubte, dies sei Bournes endgültiger Angriff.
Durch eine Wolke aus Steinsplittern stürmte Bourne mit gesenktem Kopf gegen den Unbekannten an, drängte ihn über die Plattform zurück, knallte ihn gegen einen der Steinbogen. Der Mann hämmerte mit beiden Fäusten gleichzeitig auf Bournes Rücken, sodass er auf die Knie sank. Dabei senkte er den Kopf, wodurch sein Nacken ein allzu verlockendes Ziel bot. Als der Attentäter einen Handkantenschlag anbringen wollte, packte Bourne den herabzuckenden Arm, nutzte den Schwung des Angreifers gegen ihn aus und holte den Mann so von den Beinen. Als er zu Boden ging, traf Bourne mit einem Fausthieb seine Niere.
Der Attentäter umschlang Bournes Fußknöchel mit den Beinen und verdrehte sie, sodass er auf den Rücken knallte. Der Mann stürzte sich auf ihn. Sie kämpften miteinander, während das Licht der Stablampe von einem Nebel aus aufgewirbeltem Staub verdüstert wurde. In dem schwachen Lichtschein sah Bourne das lange, scharf geschnittene Gesicht des Attentäters, sein blondes Haar, die hellen Augen. Das verblüffte ihn sekundenlang. Ihm wurde bewusst, dass er erwartet hatte, der Attentäter werde Chan sein.
Bourne wollte diesen Mann nicht töten; er wollte ihn verhören. Er wollte unbedingt wissen, wer der Kerl war, wer ihn geschickt hatte und weshalb Vadas hatte sterben müssen. Aber der Mann kämpfte mit der Kraft und Hartnäckigkeit eines Verlorenen, und als er Bournes rechte Schulter traf, wurde dessen Arm gefühllos. Als er sich jetzt aufrappelte, fiel der Attentäter über ihn her, bevor er seine Haltung verändern und sich schützen konnte. Drei wuchtige Fausthiebe nacheinander ließen ihn durch einen der Steinbogen taumeln, bis er mit dem Rücken an der niedrigen Brüstung lehnte. Der Mann setzte sofort nach und hielt seine leer geschossene Pistole am Lauf gepackt, um ihren Griff als Keule zu benützen.
Bourne schüttelte benommen den Kopf und versuchte, die Schmerzen in seiner rechten Schulter loszuwerden. Der Attentäter war nun fast heran und hatte den rechten Arm erhoben, sodass der massive Griff seiner Waffe im Licht der Straßenlaternen auf dem Platz vor der Kirche glänzte. Auf seinem Gesicht stand ein mörderischer Ausdruck, seine Zähne waren zu einem raubtierartigen Knurren gefletscht. Er schwang die Pistole mit brutalem Schwung in weitem Bogen; der Griff kam herabgesaust, sollte Bourne offensichtlich den Schädel einschlagen. Im letzten Augenblick schaffte es Bourne, so zur Seite zu rutschen, dass der Angreifer durch den eigenen Schwung über die Brüstung kippte.
Bourne reagierte augenblicklich, griff über die Brüstung und bekam die Hand des Mannes noch zu fassen. Aber der Regen hatte ihre Haut glitschig gemacht, und die Hand rutschte ihm durch die Finger. Mit einem gellenden Aufschrei fiel der Mann in die Tiefe und stürzte aufs Pflaster vor dem Kirchenportal.
Es war spät nachts, als Chan in Budapest ankam. Er nahm sich am Flughafen ein Taxi und stieg im Hotel Danubius als Heng Raffarin ab — unter dem Namen, unter dem er schon als Reporter von Le Monde aufgetreten war. So war er durch die Passkontrolle gekommen, aber er hatte auch weitere — ebenfalls gekaufte — Papiere bei sich, die ihn als Interpol-Inspektor auswiesen.
«Ich bin eigens aus Paris angereist, um Mr. Conklin zu interviewen«, sagte er in gereiztem Tonfall.»All diese Verzögerungen! Ich bin schrecklich spät dran. Könnten Sie Mr. Conklin bitte mitteilen, dass ich endlich angekommen bin? Wir haben beide einen recht vollen Terminkalender.«
Wie Chan vorausgesehen hatte, sah der Hotelangestellte an der Rezeption sich automatisch nach den Brieffächern hinter sich um, über denen in goldenen Ziffern die jeweilige Zimmernummer stand.»Tut mir Leid, Monsieur, aber Mr. Conklin ist im Augenblick nicht in seiner Suite. Möchten Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen?«
«Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Vielleicht klappt’s ja morgen früh. «Chan gab vor, eine kurze Mitteilung für» Mr. Conklin «zu schreiben, klebte den Umschlag zu und gab ihn dem jungen Mann. Dann nahm er seinen Schlüssel mit, wandte sich ab und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln, wie der Angestellte den Umschlag in das Fach PENTHOUSE 3 legte. Be-friedigt fuhr er in sein Zimmer hinauf, das im Stockwerk unter der Penthouse-Etage lag.
Nachdem er geduscht hatte, nahm er einige Utensilien aus einem kleinen Beutel mit und verließ sein Zimmer. Über die Treppe gelangte er in die Penthouse-Etage hinauf. Oben blieb er sehr lange auf dem Korridor stehen, horchte einfach nur, gewöhnte sich an die in jedem Gebäude zu hörenden kleinen Geräusche. Er stand unbeweglich da und wartete auf etwas — einen Laut, eine Vibration, ein Gefühl —, das ihm sagen würde, ob er weitergehen oder den Rückzug antreten sollte.
Als sich nichts Verdächtiges erkennen ließ, setzte Chan sich endlich vorsichtig in Bewegung, erkundete den gesamten Korridor und vergewisserte sich, dass zumindest hier keine Gefahr drohte. Zuletzt stand er vor der polierten zweiflügligen Teakholztür von Penthouse 3. Aus einem kleinen Besteck wählte er einen Dietrich aus. Keine Minute später öffnete er die Tür.
Chan blieb wieder eine Zeit lang auf der Schwelle stehen und nahm die Atmosphäre der Suite in sich auf. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie leer war. Trotzdem musste er sich vor einer Falle in Acht nehmen. Während langer Schlafmangel und die auf ihn einstürzenden Emotionen ihn leicht schwanken ließen, suchte er den Raum ab. Außer den Überresten eines Päckchens, das ungefähr die Größe eines Schuhkartons gehabt haben musste, wies kaum etwas darauf hin, dass diese Suite vor kurzem bewohnt worden war. Das Bett schien noch unbenutzt zu sein. Aber wo ist Bourne jetzt? fragte Chan sich.
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