Chan stellte seinen Blick jäh wieder scharf. Die Mutter rührte ihren Kleinen jetzt an der Chromfassade des Schnellimbisses mit der riesigen Kaffeetasse auf dem Dach vorbei. Etwas weiter die Straße entlang konnte Chan den Mann, den er als David Webb kannte, durch das mit Reflexen überzogene Glas einer Autoscheibe sehen. Eines musste er Webb lassen: Er war vom Rand von Conklins Anwesen aus gewiss nicht leicht zu beschatten gewesen. Chan hatte die Gestalt des Beobachters auf der Hügelstraße gesehen. Bis er den Aussichtspunkt erreicht hatte, nachdem er aus Webbs cleverer Falle entkommen war, war der Mann verschwunden gewesen, aber mit seinem IR-Nachtglas hatte Chan verfolgen können, wie Webb den Highway erreichte. So war er zur Verfolgung bereit gewesen, als Webb als Anhalter mitgenommen wurde. Während er ihn jetzt beobachtete, wusste er, was Spalko schon immer gewusst hatte: Webb war ein höchst gefährlicher Mann. Jemandem wie ihm machte es bestimmt keine Sorgen, in einem Schnellimbiss der einzige Weiße zu sein. Er wirkte einsam, obwohl Chan das nicht sicher beurteilen konnte, weil Einsamkeit ihm gänzlich fremd war.
Sein Blick kehrte zu Mutter und Kind zurück. Ihr Lachen drang an sein Ohr, unwirklich wie ein Traum.
Bourne betrat das Maßatelier Lincoln Fine Tailors in Alexandria um fünf nach neun. Das Ladenlokal sah wie fast alle übrigen Geschäfte in der Old Town aus: Es hatte eine Fassade in nachempfundenem Kolonialstil. Bourne überquerte den Klinkergehsteig, stieß die Tür auf und trat ein. Die Ladenfläche wurde durch eine Barriere zweigeteilt, die aus einer hüfthohen Theke links und dem Zuschneidetisch rechts bestand. Die Nähmaschinen standen direkt hinter der Theke und waren mit drei Latinas besetzt, die nicht mal aufsahen, als er hereinkam. Ein dünner Mann in Hemdsärmeln und einer aufgeknöpften gestreiften Weste stand hinter der Theke und starrte stirnrunzelnd auf etwas hinunter. Er hatte eine gewölbte hohe Stirn, eine hellbraune schüttere Haarkrause und ein hageres Gesicht mit schlammigen Augen. Die Brille hatte er hoch auf die Stirnglatze geschoben. Er hatte die Angewohnheit, sich in seine Habichtsnase zu kneifen. Obwohl er nicht auf die Ladentür geachtet hatte, sah er auf, als Bourne an die Theke trat.
«Ja?«, fragte er erwartungsvoll.»Was kann ich für Sie tun?«
«Sie sind Leonard Fine? Ich habe Ihren Namen im Schaufenster gelesen.«
«Der bin ich«, sagte Fine.
«Alex schickt mich.«
Der Schneider blinzelte.»Wer?«
«Alex Conklin«, wiederholte Bourne.»Mein Name ist Jason Bourne. «Er sah sich um. Niemand achtete im Geringsten auf sie. Das Geräusch der Nähmaschinen schien die Luft glitzern und summen zu lassen.
Fine zog sehr bedächtig die Brille auf seinen schmalen Nasensattel herunter. Er starrte Bourne unverhohlen und forschend an.
«Ich bin ein Freund von ihm«, sagte Bourne, der das Gefühl hatte, ihm auf die Sprünge helfen zu müssen.
«Bei uns liegen keine Kleidungsstücke für einen Mr. Conklin.«
«Ich glaube nicht, dass er welche dagelassen hat«, sagte Bourne.
Fine kniff sich in die Nase, als habe er Schmerzen.»Sie sind ein Freund, sagen Sie?«
«Seit vielen Jahren.«
Ohne ein weiteres Wort öffnete Fine die in die Theke eingelassene Klappe, damit Bourne hindurchgehen konnte.»Vielleicht sollten wir das in meinem Büro besprechen. «Er rührte Bourne durch eine Tür und einen staubigen Korridor entlang, auf dem es nach Appretur und Sprühstärke roch.
Das Büro war nichts Besonderes, nur ein Kabuff mit abgetretenem Linoleumboden voller kleiner Löcher, nackten Wasser- und Heizungsrohren vom Boden bis zur Decke, einem verkratzten grünen Stahlschreibtisch, einem Drehstuhl, einem gewöhnlichen Stuhl, zwei billigen Karteischränken und in einer Ecke aufgestapelten Kartons. Von der ganzen Einrichtung stieg wie Dampf ein Geruch von Moder und Schimmel auf. Das quadratische kleine Fenster hinter dem Drehstuhl war so verdreckt, dass die draußen vorbeiführende Gasse kaum zu sehen war.
Fine trat hinter seinen Schreibtisch, zog eine Schublade auf.»Drink?«
«Dafür ist’s noch ein bißchen früh«, sagte Bourne.»Finden Sie nicht auch?«
«Stimmt eigentlich«, murmelte Fine. Er nahm eine Pistole aus der Schublade und zielte damit auf Bournes Bauch.»Die Kugel ist nicht gleich tödlich, aber während Sie verbluten, werden Sie sich wünschen, sie sei’s gewesen.«
«Kein Grund zur Aufregung«, sagte Bourne gelassen.
«Da bin ich anderer Meinung«, widersprach der Schneider. Seine Augen standen so eng zusammen, dass der Eindruck entstand, er schiele leicht.»Conklin ist tot, und wie ich höre, haben Sie ihn umgelegt.«
«Ich war’s nicht«, sagte Bourne.
«Das behauptet ihr alle. Leugnen, leugnen, leugnen. Für den Staatsdienst typisch, nicht wahr?«Fine lächelte schlau.»Nehmen Sie doch Platz, Mr. Webb… oder Bourne… oder wie nennen Sie sich heute…«
Bourne starrte ihn an.»Sie sind bei der Agency.«
«Durchaus nicht. Ich arbeite selbstständig. Falls Alex mich nicht erwähnt hat, bezweifle ich, dass überhaupt jemand in der Agency weiß, dass ich existiere. «Der Schneider grinste zufrieden.»Deswegen ist Alex ja zu mir gekommen.«
Bourne nickte.»Darüber wüsste ich gern mehr.«
«Oh, das glaube ich. «Fine griff nach dem Hörer des Telefons auf dem Schreibtisch.»Aber wenn Ihre Leute Sie erst mal in den Klauen haben, sind Sie so damit beschäftigt, ihre Fragen zu beantworten, dass Ihnen alles andere egal ist.«
«Lassen Sie das!«, sagte Bourne scharf.
Fines Hand mit dem Telefonhörer machte mitten in der Luft Halt.»Sagen Sie mir einen Grund dafür.«
«Ich habe Alex nicht ermordet. Ich versuche rauszukriegen, wer der Täter war.«
«Doch, Sie haben ihn umgelegt. In der Zeitung steht, dass Sie zum Zeitpunkt seiner Ermordung in seinem Haus waren. Haben Sie dort jemand anders gesehen?«
«Nein, aber Mo Panov und Alex waren bereits tot, als ich angekommen bin.«
«Bockmist. Ich frage mich nur, warum Sie ihn ermordet haben. «Fine kniff die Augen zusammen.»Vermutlich wegen Dr. Schiffer.«
«Ich kenne keinen Dr. Schiffer.«
Der Schneider lachte humorlos.»Noch mehr Bockmist. Und Sie wissen vermutlich auch nicht, was die DARPA ist?«
«Natürlich kenne ich die«, sagte Bourne.»Die Abkürzung bedeutet Defense Advanced Research Projects Agency. Ist das die Forschungseinrichtung, bei der Dr. Schiffer arbeitet?«
Fine schüttelte angewidert den Kopf und murmelte:»Jetzt reicht’s. «Als er sekundenlang die Augen abwandte, um eine Nummer einzutippen, stürzte Bourne sich auf ihn.
Der CIA-Direktor saß in seinem geräumigen Eckbüro und telefonierte mit Jamie Hull. Durchs Fenster fiel strahlender Sonnenschein und ließ die Farben des Orientteppichs prächtig aufleuchten, doch das herrliche Farbenspiel blieb ohne Wirkung auf den Direktor. Seine Stimmung war düster. Er betrachtete trübselig die gerahmten Fotos, die ihn mit Präsidenten im Oval Office zeigten, mit ausländischen Spitzenpolitikern in Paris, Berlin und Dakar, Entertainern in L.A. und Las Vegas, Erweckungspredigern in Atlanta und Salt Lake City, absurderweise sogar mit dem Dalai Lama mit seinem ewigen Lächeln und seiner safrangelben Robe bei einem Besuch in New York. Diese Bilder holten ihn jedoch keineswegs aus seiner Depression heraus, sondern ließen ihn im Gegenteil seine Jahre spüren, als seien sie ein mehrschichtiges Kettenhemd, das ihn niederdrückte.
«Das Ganze ist ein gottverdammter Albtraum, Sir«, berichtete Hull aus dem fernen Reykjavik.»Zum Ersten ist die Abstimmung von Sicherheitsmaßnahmen mit Russen und Arabern eine Sisyphusarbeit. Ich meine, die halbe Zeit weiß ich nicht, wovon zum Teufel sie reden, und in der anderen Hälfte der Zeit habe ich meine Zweifel, ob die Dolmetscher — unsere und ihre — genau wiedergeben, was die anderen sagen.«
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