Er verschwand geduckt in dem niedrigen Gang, schloss die Luke hinter sich. Zu spät fiel ihm das Old-Fashioned-Glas ein, das er angefasst hatte. Stäuben die Spurensicherer es ein, finden sie meine Fingerabdrücke. Und obendrein steht vor dem Haus mein Wagen…
Zwecklos, jetzt darüber nachzudenken, er musste weiter! In gebückter Haltung folgte er dem engen Gang. Schon nach wenigen Metern wurde der Gang höher und breiter, sodass er aufrecht gehen konnte. Die Luft war hier merklich feuchter; irgendwo in der Nähe hörte er langsam Sickerwasser tropfen. Offenbar befand er sich schon außerhalb des Hausfundaments. Bourne ging schneller und erreichte keine drei Minuten später eine zweite Treppe. Sie war aus Stahl, wirkte militärisch. Er stieg hinauf und drückte oben mit den Schultern gegen eine weitere Luke. Sie ließ sich mühelos öffnen. Frische Luft, das blasse, stille Licht des Spätnachmittags und das Summen von Insekten umgaben ihn. Er befand sich am Rand des Hubschrauberlandeplatzes.
Der Asphalt war mit Zweigen und Stücken von abgestorbenen Ästen übersät. In der windschiefen kleinen Hütte mit Schindeldach am Rand des Landeplatzes hatte sich irgendwann eine Waschbärenfamilie einquartiert. Überall waren die unverkennbaren Spuren jahrelanger Vernachlässigung zu sehen. Aber der Heliport war nicht sein Ziel. Bourne kehrte ihm den Rücken zu und verschwand in dem dichten Mischwald.
Seine Absicht war, in weit ausholendem Bogen das
Haus und das ganze Anwesen zu umgehen, um zuletzt den Highway außerhalb jedes Kordons zu erreichen, den die Polizei vermutlich um den Tatort ziehen würde. Sein unmittelbares Ziel war jedoch der Bach, der das Grundstück in diagonaler Richtung durchfloss. Er wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis die Polizei Spürhunde einsetzte. Auf trockenem Boden hinterließ er unvermeidlich eine Spur, aber in fließendem Wasser würden selbst die Hunde sie verlieren.
Er schlängelte sich durchs dornige Unterholz, erreichte einen kleinen Hügelkamm, blieb zwischen zwei Zedern stehen und horchte angestrengt. Es war entscheidend wichtig, die normale Geräuschkulisse dieser speziellen Umgebung in sich aufzunehmen, damit jeder von einem Feind stammende Laut ihn sofort alarmierte. Ihm war voll bewusst, dass irgendwo in der Nähe wahrscheinlich ein Feind lauerte. Der Mörder seiner Freunde, der Zerstörer aller Bande zu seinem früheren Leben. Sein Drang, diesen Feind zu stellen, war gegen die Notwendigkeit abzuwägen, der Polizei zu entkommen. Sosehr Bourne danach gierte, den Killer aufzuspüren, war ihm dennoch klar, dass er den Bereich der Polizeiabsperrung verlassen musste, bevor die Falle ganz geschlossen war.
Als Chan den dichten Mischwald auf Alexander Conklins Anwesen betrat, fühlte er sich sofort wie zu Hause. Das hohe grüne Gewölbe schloss sich über seinem Kopf, hüllte ihn in eine vorzeitige Dämmerung. Über sich konnte er Sonnenlicht durch die höchsten Zweige fallen sehen, aber hier unten herrschte ein Halbdunkel, in dem er sein Opfer umso besser anpirschen konnte. Er war Webb von der Georgetown University bis zu Conklins Haus nachgefahren. Im Lauf seiner Karriere hatte er von Alexander Conklin gehört, kannte ihn als den legendären Spionagechef, der er einst gewesen war. Aber weshalb war David Webb hierher gekommen? Woher kannte er Conklin überhaupt? Und wie kam es, dass binnen Minuten nach Webbs Ankunft hier ein Großaufgebot von Polizei angerückt war?
Als in der Ferne lautes Kläffen zu hören war, wusste er, dass die Polizei die Spürhunde von der Leine gelassen hatte. Vor sich sah er Webb durch den Wald schleichen, als kenne er sich hier aus. Eine weitere Frage ohne auf der Hand liegende Antwort. Während Chan sein Tempo steigerte, fragte er sich, wohin Webb unterwegs sein mochte. Dann hörte er das Rauschen eines Bachs und wusste genau, was sein Opfer beabsichtigte.
Chan hastete weiter und erreichte den Bach vor Webb. Er wusste, dass sein Opfer stromabwärts waten würde, um weiter von den Hunden wegzukommen. Dann sah er am Bachufer eine mächtige Weide und musste unwillkürlich grinsen. Ein standfester Baum mit weit ausladenden Ästen war genau das, was er brauchte.
Das rötliche Sonnenlicht des frühen Abends stach wie feurige Nadeln durchs Geäst, und Bourne blinzelte gegen den grellroten Schimmer an, der jedes einzelne Blatt zu umgeben schien.
Jenseits des Hügelkamms fiel das Gelände ziemlich steil ab, und der Boden wurde felsiger. Er konnte das sanfte Rauschen des nahen Bachs hören und hielt auf kürzestem Weg darauf zu. Schneeschmelze und Frühjahrsregen hatten sich vereinigt, und der Bach war angeschwollen. Er platschte, ohne zu zögern, ins eisige Wasser und watete stromabwärts. Je länger er im Bach blieb, desto sicherer würden die Hunde seine Spur verlieren, und je weiter stromabwärts er ihn verließ, desto schwieriger würde es für die Meute werden, seine Spur erneut aufzunehmen.
Weil ihm keine unmittelbare Gefahr drohte, begann er an seine Frau Marie zu denken. Nach Hause durfte er nicht; damit hätte er sie beide gefährdet. Aber er musste Marie verständigen, sie warnen. Die Agency würde ihn bestimmt bei sich zu Hause suchen; traf sie ihn dort nicht an, würde sie Marie festnehmen und verhören, weil anzunehmen war, dass sie seinen Aufenthaltsort kannte. Noch erschreckender war der Gedanke, die unbekannten Feinde könnten versuchen, an seiner Stelle seine Angehörigen zu ermorden. Von plötzlicher Angst ergriffen, zog er Conklins Handy aus der Tasche, wählte Maries Handy an und schickte ihr eine SMS. Sie bestand aus einem einzigen Wort: Diamant. Dieses Codewort, das er mit Marie vereinbart hatte, sollte nur im äußersten Notfall gebraucht werden. Es wies sie an, die Kinder ins Auto zu laden und sofort zu ihrem sicheren Haus zu fahren. Dort sollten sie — von der Außenwelt abgeschnitten und sicher — bleiben, bis er ihnen» Entwarnung «signalisierte. Conklins Handy klingelte, und Bourne sah Maries SMS: Bitte wiederholen. Das war nicht die vorgeschriebene Antwort. Dann erkannte er, weshalb sie im Zweifel war: Er hatte sie von einem fremden Handy aus angerufen. Bourne wiederholte das Codewort, schrieb DIAMANT diesmal in Großbuchstaben. Dann wartete er mit angehaltenem Atem, bis Maries Antwort kam: SANDUHR. Er atmete erleichtert auf. Marie hatte die SMS bestätigt; er wusste, dass seine Warnung angekommen war. Schon jetzt würde sie alles liegen und stehen lassen, eilig die Kinder rufen, sie in den Kombi verfrachten und mit ihnen davonbrausen.
Trotzdem empfand er weiter eine gewisse Besorgnis. Ihm wäre viel wohler gewesen, hätte er ihre Stimme hören, hätte er ihr erklären können, was passiert war und dass es ihm gut ging. Aber ihm ging es nicht gut. Der Mann, den sie kannte — David Webb —, war wieder einmal von Bourne unterjocht worden. Marie hasste und fürchtete Jason Bourne. Und wieso auch nicht? Schließlich war es denkbar, dass Bourne eines Tages David Webbs Körper ganz übernehmen würde. Und wer wäre daran schuld gewesen? Alexander Conklin.
Verwunderlich und ganz und gar unwahrscheinlich erschien ihm, dass er diesen Mann zugleich lieben und hassen konnte. Wie rätselhaft, dass der menschliche Geist zu solch extrem gegensätzlichen Emotionen imstande ist, dass er die zweifellos vorhandenen schlechten Eigenschaften rational wegerklären konnte, um Zuneigung zu jemandem empfinden zu können. Bourne wusste jedoch, dass der Drang, zu lieben und geliebt zu werden, ein menschlicher Imperativ ist.
Darüber dachte er weiter nach, während er dem Bach folgte, dessen glitzerndes Wasser glasklar war. Kleine Fische, die sein Kommen erschreckte, flitzten hierhin und dorthin. Einige Male sah er sogar Forellen, die mit offenem Maul wie suchend durchs Wasser glitten, bevor sie als silbriger Blitz verschwanden. Dann erreichte er eine Biegung, an der eine mächtige Weide, deren Wurzeln gierig Feuchtigkeit suchten, übers Bachbett hing. Obwohl Bourne auf jeden Laut, jedes Anzeichen dafür achtete, dass die Verfolger näher kamen, entdeckte er nichts außer dem Rauschen des Bachs selbst.
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