Der Angriff kam von oben. Er hörte nichts, aber er fühlte, wie das Licht sich veränderte, bevor plötzlich ein Gewicht auf ihm lastete und ihn ins Wasser drückte. Er spürte den vernichtenden Druck eines Körpers auf Schultern und Lunge. Während er nach Luft rang, knallte der Angreifer seinen Kopf auf die glitschig bemoosten Felsen im Bachbett. Eine Faust traf seine Niere, sodass der plötzliche Schmerz ihm den Atem verschlug.
Statt alle Muskeln anzuspannen, um den Angriff abzuwehren, zwang Bourne seinen Körper dazu, völlig schlaff zu werden. Und statt verzweifelt um sich zu schlagen, legte er dabei die Ellbogen an. In dem Augenblick, in dem sein Körper am schlaffsten war, stemmte er sich auf ihnen hoch und verdrehte dabei den Rumpf. Während er sich herumwarf, brachte er einen Handkantenschlag an. Als das Gewicht von ihm abfiel, holte er laut keuchend Luft. Wasser strömte ihm übers Gesicht und lief ihm in die Augen, sodass er den Angreifer nur schemenhaft wahrnahm. Er schlug erneut zu, aber sein Schlag ging ins Leere.
Der Angreifer verschwand so rasch, wie er gekommen war.
Chan stolperte keuchend und würgend im Wasser stromabwärts. Er hatte Mühe, an den verkrampften Muskeln und gequetschten Knorpeln seines Kehlkopfs vorbei zu atmen. Benommen und wütend erreichte er das Unterholz und war wenig später im Dickicht des Waldes verschwunden. Während er versuchte, sich dazu zu zwingen, wieder normal zu atmen, massierte er sanft die empfindliche Stelle, die Webb getroffen hatte. Das war kein Zufallstreffer, sondern der gezielte Gegenangriff eines Profis gewesen. Chan war verwirrt, empfand sogar einen Anflug von Angst. Webb war ein gefährlicher Mann — viel gefährlicher, als ein Wissenschaftler hätte sein dürfen. Auf ihn war nicht zum ersten Mal geschossen worden; er konnte feststellen, woher ein Geschoss gekommen war, er kannte sich in der Wildnis aus, er war für den Nahkampf ausgebildet. Und er war beim ersten Anzeichen von Problemen zu Alexander Conklin gefahren. Wer ist dieser Mann? fragte Chan sich. Eines stand für ihn fest: Er würde Webb nicht noch einmal unterschätzen. Er würde ihn weiter beschatten, den psychologischen Vorteil zurückgewinnen. Und vor dem unvermeidlichen Ende sollte Webb Angst vor ihm haben.
Martin Lindros, der stellvertretende CIA-Direktor, traf genau um 18.18 Uhr auf dem Landsitz des verstorbenen Alexander Conklin in Manassas ein. Empfangen wurde er von dem Kriminalbeamten, der die Ermittlungen der Virginia State Police leitete, einem abgehetzten Mann mit Stirnglatze namens Harris, der versuchte, den Zuständigkeitsstreit zu schlichten, der zwischen State Police, County Sheriff und FBI entstanden war, die alle die Ermittlungen an sich ziehen wollten, seit die Identität der Mordopfer bekannt geworden war. Als Lindros aus dem Wagen stieg, zählte er ein Dutzend Fahrzeuge, dreimal so viele Beamte. Was hier gebraucht wurde, waren Ordnung und Methode.
Als er Harris die Hand schüttelte, sah er ihm offen ins Gesicht und sagte:»Detective Harris, das FBI bleibt außen vor. Sie und ich werden diesen Doppelmord allein bearbeiten.«
«Ja, Sir«, bestätigte Harris knapp. Er war groß und hielt sich — vielleicht als Ausgleich dafür — leicht gebeugt, was im Verein mit großen wässrigen Augen und kummervoller Miene bewirkte, dass er wie ein Mann aussah, dessen Energie längst verbraucht war.»Danke. Ich habe einige…«
«Danken Sie mir nicht, Detective. Ich garantiere Ihnen, dass dies ein verdammt schwieriger Fall wird. «Er beauftragte seinen Assistenten, das FBI und die Leute des Sheriffs wegzuschicken.»Irgendeine Spur von David Webb?«Vom FBI, mit dem er telefoniert hatte, wusste er, dass Webbs Auto in Conklins Einfahrt entdeckt worden war. Aber hier ging es natürlich nicht um Webb, sondern um Jason Bourne. Deshalb hatte der CIA-Direktor ihn entsandt, damit er die Ermittlungen persönlich übernahm.
«Noch nicht«, sagte Harris.»Aber die Hunde sind unterwegs.«
«Gut. Welchen Radius hat Ihre Absperrung?«
«Ich wollte meine Männer losschicken, aber dann hat das FBI…«Harris schüttelte den Kopf.»Ich habe ihnen gesagt, dass es auf jede Minute ankommt.«
Lindros sah auf seine Uhr.»Nehmen Sie eine halbe Meile. Lassen Sie Ihre Männer einen weiteren Kreis mit einer Viertelmeile Radius absuchen. Vielleicht finden sie etwas, das uns weiterhilft. Fordern Sie notfalls zusätzliche Leute an.«
Während Harris sein Handfunkgerät benützte, musterte Lindros ihn prüfend.»Wie heißen Sie mit Vornamen?«, fragte er, als der Kriminalbeamte seine Anweisungen erteilt hatte.
Der andere erwiderte seinen Blick verlegen.»Harry.«
«Harry Harris. Soll das ein Witz sein?«
«Nein, Sir, leider nicht.«
«Was haben Ihre Eltern sich dabei gedacht?«
«Nichts, fürchte ich, Sir.«
«Okay, Harry. Sehen wir uns mal an, was wir hier haben. «Lindros war Ende dreißig, ein smarter aschblonder Akademiker, den die Agency an der Georgetown University angeworben hatte. Sein Vater war ein charakterfester Mann gewesen, der stets sagte, was er dachte, und vieles auf eigenwillige Art tat. Seine schrullige Unabhängigkeit hatte er dem jungen Martin ebenso eingeimpft wie Pflichtbewusstsein seinem Land gegenüber, und Lindros wusste, dass diese Eigenschaften den CIA-Direktor auf ihn aufmerksam gemacht hatten.
Als Harris ihn ins Arbeitszimmer führte, fielen Lindros die beiden Old-Fashioned-Gläser auf dem Couchtisch im Medienraum auf.»Hat jemand die angefasst, Harry?«
«Meines Wissens nicht, Sir.«
«Nennen Sie mich Martin. Wir werden uns sehr rasch kennen lernen. «Er sah auf und lächelte, um dem anderen noch mehr von seiner Befangenheit zu nehmen. Die Art und Weise, wie er sich als CIA-Vertreter durchgesetzt hatte, war Absicht gewesen. Indem er die anderen Polizeibehörden ausschaltete, hatte er Harris zu seinem Trabanten gemacht. Unterschwellig ahnte er, dass er einen willfährigen Kriminalbeamten brauchen würde.»Lassen Sie Ihre Spurensicherer beide Gläser auf Fingerabdrücke untersuchen, okay?«
«Wird gemacht.«
«Und jetzt wollen wir mit dem Leichenbeschauer reden.«
Auf dem höchsten Punkt der Straße, die sich über den Hügel an der Grenze des Anwesens schlängelte, stand ein untersetzter Mann, der Bourne durch ein lichtstarkes Nachtglas beobachtete. Er hatte ein breites Mondgesicht von deutlich slawischem Schnitt. Die Fingerspitzen seiner linken Hand waren gelb verfärbt; er war ein zwanghafter Kettenraucher. Hinter ihm stand sein großer schwarzer Geländewagen auf der asphaltierten Fläche eines Aussichtspunkts. Jeder Vorbeifahrende hätte ihn für einen Touristen gehalten. Als er das Fernglas etwas schwenkte, entdeckte er Chan, der auf Bournes Fährte durch den Wald schlich. Ohne Chan aus den Augen zu lassen, klappte er sein Tri-Band-Handy auf und tippte eine Auslandsnummer ein.
Stepan Spalko meldete sich sofort.
«Die Falle ist zugeschnappt«, sagte der untersetzte Slawe.»Die Zielperson ist auf der Flucht. Bisher hat sie’s geschafft, die Polizei und Chan abzuhängen.«
«Gottverdammich!«, sagte Spalko.»Was hat Chan vor?«
«Soll ich’s feststellen?«, fragte der Mann in seiner kalten, lässigen Art.
«Sie bleiben möglichst weit weg von ihm. Ich will sogar«, sagte Spalko,»dass Sie sofort verschwinden.«
Bourne erreichte stolpernd das Bachufer, sank zu Boden und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Sein Körper schmerzte, und seine Lunge brannte wie Feuer. Hinter seinen Augen kam es zu Explosionen, die ihn wieder in den Dschungel von Tarn Quan versetzten: mitten in die Aufträge hinein, die David Webb auf Alex Conklins Befehl übernommen hatte — vom Oberkommando in Saigon genehmigte, aber trotzdem von ihm geleugnete Einsätze; Himmelfahrtskommandos, die so schwierig und so mörderisch waren, dass US-Soldaten niemals mit ihnen in Verbindung gebracht werden durften.
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