»Oh Gott!«, stöhnte sie.
»Margaret-Ann, mach verdammt noch mal, was ich dir sage, und klettere jetzt los!«, forderte Jack. »Sonst werde ich dich hier zurücklassen, verfluchte Scheiße!«
»Ich versuch’s ja, ich versuch’s ja!«, versprach ihm Maggie. »Schrei mich bitte nicht mehr an, Jack, ich versuch’s ja.«
Zentimeter für Zentimeter bahnten sie sich den Weg nach unten. Sobald Maggie weit genug vom Dachvorsprung weg war, rief Jack Randy zu, dass er ihnen folgen sollte. Randy war schon auf Bäume geklettert, die fast so hoch waren wie The Oaks, und kam ohne große Schwierigkeiten hinterher. Maggie brabbelte und stöhnte während des gesamten Abstiegs vor sich hin. Nachdem Jack ihr den letzten Schritt zum Boden angezeigt hatte, drehte sie sich um, schlang die Arme um ihn und bedeckte ihn gegen seinen eigenen Willen mit nassen Küssen, während sie hysterisch kreischte.
Jack stieß sie zur Seite und hielt sie am Arm fest, um sie sich vom Leib zu halten. Er sah zu, wie Randy das letzte Stück mit einem Sprung überwand, und fragte dann: »Wo steht dein Auto?«
»Hinten am Tor!«, erklärte Maggie. Mit einem Blick zum Dach fügte sie hinzu: »Wo ist Karen?«
»Mach dir jetzt mal keine Gedanken um Karen, sondern schnapp dir Randy, renn zum Auto und mach, dass du von hier wegkommst. Fahr direkt nach Hause und halt unterwegs auf keinen Fall an.«
»Aber ich dachte, Karen sei direkt hinter uns!«
»Maggie, nach Hause! Sofort!«
Verwirrt nahm Maggie Randy bei der Hand und die beiden eilten entlang der Eichenallee auf das Tor zu.
»Lauft!«, schrie Jack und sie begannen zu rennen.
Jack stand da und sah ihnen hinterher, während ihn seine Gefühle dermaßen überwältigten, dass er kaum atmen konnte. Dann wandte er sich wieder den dunklen Türmen von The Oaks zu. Er hatte noch eine gewaltige Rechnung mit Quintus Miller zu begleichen.
Er wanderte an der Küche und der Rückseite der Fassade vorbei zum Gewächshaus. Der heftige Regen hatte einen weiteren Teil des Glasdachs zum Einsturz gebracht. Wasser klatschte geräuschvoll auf die Fliesen. Jack zögerte kurz, dann ging er hinein. Die Tür ließ er weit offen stehen.
Er durchquerte den dunklen Aufenthaltsraum, bis er die Halle erreichte. Die zwei blinden Statuen beobachteten ihn erneut mit geschlossenen Augen. Nichts erinnerte mehr an die gierigen Hände, die aus dem Marmorboden emporgekommen waren. Keine Spur von Quintus Miller, Gordon Holman oder einem der anderen Geistesgestörten.
In der Halle war es still.
Jack leuchtete alles mit seiner Taschenlampe ab. Irgendwann erhaschte er einen Blick auf grünes Glas. Es war Geoffs Perrier-Flasche, in der er das Weihwasser transportiert hatte. Er wartete, lauschte und versuchte, das verräterische Sssschhhh – sssschhh – sssschhhhh auszumachen, doch er hörte nur den Regen. Vielleicht musste Quintus nach seiner Gewaltorgie erst einmal wieder zu Kräften kommen.
Karen!, dachte er in einem plötzlichen Anflug von Trauer.
Er tappte auf Zehenspitzen durch die Halle und hob die Wasserflasche auf. Dann trat er den Rückweg an. Er ließ den Strahl der Taschenlampe hierhin und dorthin schweifen, immer auf der Suche nach Händen oder Gesichtern, die aus den Wänden ragten.
Das restliche Weihwasser in der Flasche gab ein schwach schmatzendes Geräusch von sich. Jack betete, dass es klappen würde, genau wie es bei Pater Bell funktioniert hatte. Er kannte keine Exorziergebete, doch hoffte er, dass die Aufrichtigkeit seines Vorhabens, die Welt von Quintus Miller und all den anderen wahnsinnigen, mörderischen Bestien zu befreien, ausreichte.
Zu seiner grenzenlosen Erleichterung erreichte Jack unbehelligt den Ausgang des Gewächshauses. Er trat wieder hinaus in den Regen, schraubte die Flasche auf und begann, seine primitive Variante eines Bannkreises um The Oaks zu ziehen, indem er sparsam das verbliebene Weihwasser verteilte und dabei seine eigenen Gebete sprach, um unreine Geister für immer gefangen zu halten.
»Lieber Gott, wenn dir etwas an dieser Welt liegt … wenn du das Leben und das Glück wertschätzt … dann sperr diese Menschen für immer in diesen Ring ein … denn Dein ist die Kraft und die Herrlichkeit, Amen.«
Er war fast fertig, als er ein Pochen tief im Untergrund wahrnahm. Es klang so, wie H.G. Wells die tosenden Maschinen der Morlocks in Die Zeitmaschine beschrieb .
Dann vernahm er ein hohes, wehklagendes Geräusch. Als er so im Regen stand, erkannte er, dass es die Irren waren, die weinten. Jack hatte sie wieder in The Oaks eingesperrt, hielt sie gefangen. Und diesmal würden sie nie mehr entkommen, denn er hatte sie eingesperrt und der Einzige, der sie jemals wieder herauslassen konnte, war er selbst. Entweder er oder drei Kardinäle.
»Ihr Monster!«, schrie er zum Himmel. »Ihr Monster!«
Jack marschierte zurück zum Kiesweg und warf einen vorerst letzten Blick auf die neugotischen Umrisse von The Oaks. Er wünschte sich, das ganze Gebäude vollkommen zerstören zu können.
Jack blinzelte immer noch wegen des Regens, als unversehens ein tiefes Ssssschhhhh im Kies zu seiner Rechten ertönte, ganz nah am Badehaus. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien. Zunächst konnte er gar nichts erkennen.
Dann hörte er es erneut. Sssssssssssssschhhhhhhhhhhh – schneller und immer schneller. Es mündete in ein tosendes Crescendo. SsssssSSSCHHHHHHHHH …
Jack ließ den Lichtkegel von einer Seite des Kieswegs zur anderen schnellen. Da sah er eine riesige Flutwelle blitzartig im Boden aufbranden, die schneller auf ihn zukam, als ein Mensch rennen konnte.
Er musste nicht erst warten und schauen, um wen es sich handelte. Er wusste es einfach. Quintus Miller musste The Oaks verlassen haben, bevor Jack seinen Weihwasserring gezogen hatte. Und jetzt schoss der zügellose Anführer vor Wut schäumend und versehen mit nahezu grenzenloser Macht durch den Boden direkt auf ihn zu.
Der Kies brodelte und spritzte zur Seite. Das Gras des Rasens stob auseinander. Zwei steinerne Blumentöpfe explodierten wie Bomben. Jack rannte den Hügel hinunter zum Tennisplatz. Eine riesige Woge aus aufplatzendem Gras und Erdklumpen verfolgte ihn.
Quintus Miller war so dicht hinter Jack, dass dieser es nicht wagte, zurückzusehen und sich ihm mit den letzten Tropfen Weihwasser bewaffnet zu stellen.
Jack rannte und rannte, bis er so schnell war, dass er nicht einmal hätte anhalten können, wenn er es denn gewollt hätte. Er überquerte den unter Wasser stehenden Tennisplatz. Seine Schuhe platschten durch die Pfützen. Der Asphalt wurde nur einen Meter hinter seinen Hacken aufgerissen. Er erreichte den Rand des überlaufenden Schwimmbeckens, versuchte auszuweichen, stolperte und fiel mit rudernden Armen seitwärts in die kalte, trübe, widerliche Brühe. Noch im Fallen dachte er: Was auch immer passiert, lass bloß nicht das Weihwasser los.
Die Kälte ließ ihn nach Luft ringen. Er kämpfte sich unter Wasser in Richtung Oberfläche durch, dabei entglitt ihm seine Taschenlampe. Sie verschwand als schwache Funzel in der Tiefe.
Da platzten die Fliesen am Pool auf und Quintus Miller tauchte mit einer enormen Explosion von Blasen, Dreck und aufgewühltem Schlamm ins Wasser ein. Jack schrie, schoss an die Oberfläche und sog gierig Luft ein. Doch Quintus erwischte ihn am Knöchel und zog ihn wieder hinab.
Jack wand sich und trat um sich, doch Quintus war entschlossen, ihn nicht gehen zu lassen. Er umschloss Jacks Hüfte, dann seinen Oberkörper und zog ihn nach hinten. Verzweifelt nach Luft ringend, fühlte Jack Quintus’ kräftige Finger, die sich auf der Suche nach den Augenhöhlen in sein Gesicht gruben.
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