12.19.19.17.16 – 17. DEZEMBER 2012

28

Chel stand allein in der Eingangshalle des Getty Research Institute und schaute zu, wie die Strahlen der Nachmittagssonne durch das Oculus genannte runde Oberlicht fielen. Zur Sommersonnwende stand die Sonne um zwölf Uhr mittags senkrecht über diesem Oculus und warf einen Schatten genau auf die Mitte der Glasplatte im untersten Stock – der Entwurf war eine Anlehnung an die zum Teil auf astrologischen Beobachtungen basierende Architektur des Altertums. Dies war das Bollwerk der Maya-Forschung, dem das Kuratorium auf ihr beharrliches Drängen hin zugestimmt hatte. Es sei ein historisches Verbrechen, die fortschrittlichste Kultur der Neuen Welt zu ignorieren, hatte sie argumentiert.
Und jetzt stellte sich heraus, dass die Maya selbst ein historisches Verbrechen begangen hatten.
Jahrhundertelang hatten die spanischen Eroberer als Beweis für ihre eigene moralische Überlegenheit den Ureinwohnern Kannibalismus vorgeworfen. Missionare hatten diesen Vorwurf als Rechtfertigung benutzt, um alte Handschriften zu verbrennen; spanische Könige hatten mit diesem Vorwurf ihren Anspruch auf das Land untermauert. Bis in die Neuzeit hatten sich diese Lügengeschichten gehalten. Selbst während der Revolution in Chels Kindheit waren entsprechende Behauptungen aufgetaucht, um die Unterdrückung der modernen Maya zu rechtfertigen.
Und jetzt würde sie den Feinden ihres Volkes den Beweis liefern, nach dem sie so lange gesucht hatten. In der Postklassik hatten die Azteken dreihundert Jahre lang in Mexiko geherrscht, hatten Bedeutendes in Kunst und Architektur geschaffen und die Handelsbräuche in Mittelamerika revolutioniert. Aber wenn man jemanden fragte, was er über die Azteken wisse, so dachten die meisten an Kannibalismus und Menschenopfer. Und genau das Gleiche würde jetzt den Maya widerfahren. Alles, was Chels Vorfahren an großartigen Leistungen vollbracht hatten, würde von dieser Entdeckung überschattet werden. Sie wären nur noch die Wilden, die Gottesanbeterinnen verehrt hatten, weil die ihre Männchen auffraßen. Die Wilden, die Kinder opferten und sie verspeisten.
»Das gibt es schon seit etlichen Hunderttausend Jahren.«
Stanton war ihr in die Eingangshalle gefolgt. Er war dabei gewesen, als Chel, Victor und Rolando den letzten Teil des alten Buches rekonstruiert hatten. Chel war ihm dankbar dafür. Nach allem, was sie entdeckt hatten, empfand sie seine Gegenwart als tröstlich.
»In jeder Kultur gibt es Hinweise auf Kannibalismus«, fuhr er fort. »Auf Papua-Neuguinea, in Nordamerika, in der Karibik, in Japan, in Zentralafrika aus der Zeit, als unser aller Vorfahren dort lebten. Aufgrund einer bestimmten Anzahl genetischer Marker in der menschlichen DNA überall auf der Welt kann man darauf schließen, dass alle unsere Vorfahren in der Frühzeit tote Menschen verspeisten.«
Chel blickte wieder zum Oculus hinauf. Ein Stück weiter unten konnte man die Regale der Bibliothek mehr erahnen, als dass man sie sah – Tausende bibliophile Kostbarkeiten, Zeichnungen und Fotografien aus aller Welt. Und jedes Stück hatte seine eigene komplizierte Geschichte.
»Haben Sie schon mal von Atapuerca gehört?«, fragte Stanton.
»In Spanien?«
Er nickte. »Dort hat man bei Ausgrabungen die ältesten Überreste von Urmenschen in Europa entdeckt. Gran Dolina. Man fand Skelette von Kindern, die verspeist worden waren. Die Vorfahren der Konquistadoren haben Kannibalismus praktiziert, lange bevor Ihre das taten. Es ist nur allzu menschlich, dass man in der Verzweiflung etwas so Unvorstellbares tut, wenn die eigene Familie hungert. Seit Anbeginn der Geschichte ist es immer nur schlicht ums Überleben gegangen.«
***
Eine halbe Stunde später saßen Stanton, Chel, Rolando und Victor auf den Hockern im Labor, wo sie seit achtundvierzig Stunden praktisch ununterbrochen gearbeitet hatten. Stanton las noch einmal die Übersetzung dessen, was der König zum Schreiber gesagt hatte:
Ich und meine engsten Getreuen haben diese Macht bereits erlangt, da wir in den vergangenen dreihundert Sonnen mehr als zwanzig Männer verzehrt haben. Jetzt ist es Akabalams Wille, dass wir die Kraft von zehn Männern in jedem einzelnen Mann unseres großartigen Volkes konzentrieren.
Stanton stellte sich das Schlachthaus vor, in dem die beiden standen. Er fühlte sich auf geradezu unheimliche Weise an die Schlachthäuser und Fleischverarbeitungsanlagen erinnert, die er zehn Jahre lang im Rahmen seiner Arbeit besichtigt hatte. Die Verbindung zwischen Kannibalismus und der Krankheit war klar: Der Rinderwahnsinn war ausgebrochen, weil Bauern ihre Rinder mit dem Hirn anderer Rinder gefüttert hatten. VFI war ausgebrochen, weil ein verzweifelter König seinem Volk menschliches Hirn zu essen gegeben hatte, das mit pathogenen Prionen infiziert war.
»Kann das Zeug wirklich so lange in einem Grab überdauert haben?«, fragte Rolando.
»Prionen könnten theoretisch Jahrtausende überdauern«, antwortete Stanton. »Die Erreger müssen in diesem Grab quasi auf der Lauer gelegen haben. Eine tickende Zeitbombe.« Und Volcy hatte den Zündmechanismus in Gang gesetzt. Er hatte ein Grab gefunden, in der Erde gescharrt und sich dann an die Augen gefasst.
»Paktul schreibt, dass nur diejenigen krank wurden, die Menschenfleisch gegessen haben«, sagte Victor. »Und Sie glauben doch sicher nicht, dass Volcy Kannibale war. Wie kommt es also, dass VFI durch die Luft übertragen werden kann?«
»Prionen haben die Tendenz zu Mutationen«, erklärte Stanton. »Es ist sozusagen ihr Daseinszweck, sich ständig zu verändern. Nach tausend Jahren in diesem Grab verwandelten sie sich in etwas anderes, etwas viel Wirkungsvolleres.«
Er überflog die Seite auf der Suche nach einer anderen Passage.
Jaguar Imix und sein Gefolge haben viele Monde lang im Einvernehmen mit den Göttern Menschenfleisch verzehrt. Doch welcher Gott sie auch immer beschützt haben mag, er beschützt sie nun nicht mehr.
Sie wussten jetzt zwar, wie die Krankheit entstanden war, aber auch Stanton fragte sich, was er mit diesen Informationen anfangen sollte. Barg das Grab selbst die Antworten, die ihnen noch fehlten? Noch vor zwei Tagen hätte er das CDC anhand dieser Ergebnisse eventuell dazu bewegen können, eine großangelegte Suche nach Kanuataba zu starten. Er hatte Davies, der wieder im Zentrum für Prionenforschung arbeitete, angerufen und ihm von ihrer Entdeckung erzählt. Aber es gab keinerlei Experimente, die sein Team aufgrund dieser Informationen hätte durchführen können. Stanton überlegte, ob er Cavanagh eine E-Mail schicken sollte, doch selbst wenn sie sich dazu durchgerungen hätte, ihm zu antworten, wüssten sie immer noch nicht, wohin sie das Team entsenden sollten, weil sie immer noch keine genaueren Ortsangaben hatten. Und die Guatemalteken würden vermutlich weiterhin abstreiten, dass sich der Infektionsherd in ihrem Land befand, und einem offiziellen Team die Einreise verweigern.
Außerdem hatte das CDC den Nachrichten zufolge im Moment andere Sorgen: Immer mehr Menschen suchten auf dem Land-, auf dem Luft- und auf dem Seeweg nach Schlupflöchern, um der Quarantäne zu entkommen. Atlantas oberste Priorität war es ganz sicher nicht, den Infektionsherd zu finden. Eine tausend Jahre alte Bilderhandschrift würde nicht genügen, um die Bürokraten vom Seuchenzentrum zu überzeugen.
»Wenn Paktul und die drei Kinder Kiaqix gegründet haben«, sagte Rolando, »dann verstehe ich aber nicht, warum in der Legende von drei Gründern die Rede ist. Es sind vier, nicht drei.«
»Diese mündlichen Überlieferungen darf man nicht so wörtlich nehmen«, erwiderte Chel. »Es gibt unzählige Versionen, und die werden von Generation zu Generation weitergegeben, da kann es schon passieren, dass das eine oder andere verloren geht.«
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