»Wir haben eine digitale Kopie, die Übersetzung und eine Landkarte«, erwiderte Chel, die bisher kein Wort gesagt hatte.
»Ich würde dir ja sagen, du hast den Verstand verloren, aber ich schätze, das weißt du selbst«, sagte Davies zu seinem Partner.
»Hast du eine bessere Idee?«, entgegnete Stanton. »Im Radio haben sie gebracht, dass in New York die Fünftausendermarke überschritten worden ist.«
Sie luden die luftdichten Schutzanzüge, die Messgeräte, ein batteriebetriebenes Mikroskop und andere Gegenstände für ein mobiles Labor in Stantons Audi. Dann hievte Davies die letzte Tasche aus dem Kofferraum und sagte: »Dreiundzwanzigtausend in bar. Jeder im Labor hat zusammengekratzt, was er konnte. Und das da.« Er öffnete die Tasche noch ein Stück weiter. Ganz unten lag die Waffe aus Stantons Safe.
»Ich danke euch«, sagte Stanton leise. »Für alles.«
»Und wie willst du hier rauskommen, Doc?«, fragte Monster. »Die Grenzen sind mit zusätzlichen fünfzigtausend Mann verstärkt worden. Sie haben ihre Leute im Abstand von einer Meile postiert. Und ein Sportflugzeug oder einen Hubschrauber kriegst du jetzt nirgends mehr.«
Stanton streifte Chel mit einem flüchtigen Blick und sah dann auf den Pazifik hinaus.
***
Gleich südlich von Kanan Beach an der Küste von Malibu kam der Campus der Pepperdine University in Sicht. Stanton bog scharf nach links auf eine unbefestigte Straße ab und folgte ihr bis ganz ans Ende. Er stellte den Motor ab, und sie stiegen aus. Sie mussten ungefähr ein halbes Dutzend Mal die steinige Böschung hinunter- und wieder hinaufklettern, bis sie alles ausgeladen und an den Strand geschleppt hatten. Dann warteten sie. Dieser Küstenabschnitt zählte aufgrund seiner Untiefen und Klippen zu den gefährlichsten von Malibu, und nur wer bestens mit den geografischen Gegebenheiten vertraut war, konnte es wagen, bei Dunkelheit sein Boot hindurchzusteuern. Außerdem würde die Küstenwache nach wie vor auch diesen Abschnitt kontrollieren.
Endlich sahen sie ein paar Hundert Meter weiter draußen auf See eine Taschenlampe aufblitzen. Wenige Minuten später näherte sich ein kleines Beiboot. Ninas Haare waren zerzaust, und ihre Haut war salzverkrustet.
»Du hast es tatsächlich geschafft«, sagte Stanton, als sie ans Ufer sprang und das Boot an den Strand zog.
Sie umarmten sich. »Dein Glück, dass ich mich mein ganzes Leben lang vor den Hafenmeistern versteckt habe«, sagte Nina.
Selbst unter diesen Umständen kam es ihm merkwürdig vor, mit den beiden Frauen zusammen zu sein. »Chel, das ist Nina.«
Er hatte Nina nur gesagt, er werde jemanden mitbringen, der mit der Gegend dort unten vertraut war und ihm als Führer im Dschungel dienen würde. Er hatte nicht erwähnt, dass dieser Jemand eine Frau war.
Doch Chel und Nina schienen sich auf Anhieb sympathisch zu finden. »Danke, dass Sie das für uns tun«, sagte Chel.
Nina lächelte. »Ich kann mir doch die Chance nicht entgehen lassen, dass mein Exmann mir einen Gefallen schuldet.«
Sie luden die Ausrüstung in das Beiboot und fuhren zur Plan A hinaus, die etwa zweihundert Meter von der Küste entfernt vor Anker lag. Als sie das Fallreep hinaufkletterten und an Bord gingen, wurde Stanton von einem vertrauten heiseren Bellen begrüßt. Er bückte sich, drückte Dogma an sich und kraulte ihm das weiche, nasse Fell.
Ihr Ziel war Ensenada in Mexiko, zweihundertvierzig Meilen weiter südlich. Nina hatte mit dem Kapitän eines größeren Schiffes gesprochen und vereinbart, dass er dort auf sie warten und die beiden Passagiere an Bord nehmen würde. Von dort würde es, vorbei an der Halbinsel Baja California, weiter Richtung Süden gehen, wo sie eher eine Chance hätten, ein Flugzeug nach Guatemala zu chartern.
Die McGray erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von zweiundvierzig Knoten, was bedeutete, dass die Fahrt nach Ensenada inklusive Tankstopp etwa acht Stunden dauern würde. Als sie aus der Bucht hinausfuhren, auf die gewaltige nordpazifische Meeresströmung zu, suchte Stanton mit den Augen den Horizont nach Booten der Küstenwache ab. Bei der Herfahrt hatte Nina einen Umweg von mehreren Meilen gemacht, um den Patrouillenbooten auszuweichen, deren Route sie entschlüsselt hatte. Über Funk hörten sie ein paar andere, die in verschlüsselten Sätzen über ihre Fluchtpläne sprachen. Draußen auf offener See wechselten sich Nina und Stanton am Steuerrad ab, wobei Nina die schwierigeren Passagen übernahm. Chel war nach unten in die Kajüte gegangen und nicht wieder heraufgekommen. Stanton machte sich Sorgen um sie.
***
Kurz vor Sonnenaufgang gerieten sie in einen Ausläufer des nordpazifischen Müllteppichs, und als sich Teile der Plastik- und sonstigen Abfälle an den Schiffsbug hefteten und am Ruderblatt hängen blieben, schlingerte das Boot heftig hin und her. Aber Nina, eine erfahrene Schiffsführerin, meisterte die Situation und steuerte sie mit Umsicht und Gelassenheit in ruhigere Gewässer. Stanton bewunderte ihr im Laufe vieler Jahre erworbenes Können.
Obwohl sie unverkennbar ganz in ihrem Element war, musste es ein merkwürdiges Gefühl gewesen sein, diese letzte Woche ganz allein hier draußen auf See zu sein. Es war eine Sache, der Welt freiwillig den Rücken zu kehren, aber eine ganz andere, sich vorzustellen, dass es vielleicht keine Welt mehr gab, in die man zurückkehren konnte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Stanton, als sie den gewaltigen Wirbel hinter sich gelassen hatten.
Nina, die Hände fest am Ruder, streifte ihn mit einem flüchtigen Blick. »Hab nur nachgedacht.«
»Und worüber?«
»Wir waren drei Jahre verheiratet«, sagte sie. »Das heißt, wir haben ungefähr tausend Nächte miteinander verbracht, minus den dreißig Prozent, die du im Labor geblieben bist. Und den ungefähr fünfzehn, die du auf der Couch geschlafen hast, weil du mich genervt hast.«
»Ein Rundungsfehler, wenn du mich fragst.«
»Und da habe ich mir überlegt«, fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwurf zu achten, »dass wir jede Nacht acht Stunden schlafen. Unter der Woche verbringen wir tagsüber nur ein paar Stunden zusammen, richtig? Das heißt, wir haben schlafend mehr Zeit miteinander verbracht als wach.«
»Könnte stimmen.«
Sie lauschten den sanften, rhythmischen Geräuschen des Meeres. Nina drehte das Ruder und änderte den Kurs ein klein wenig. Stanton sah ihr an, dass noch etwas anderes sie beschäftigte. »Was?«
Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Kajüte, wo Chel war. »Es ist schon komisch, wenn du jemand anderen so ansiehst«, flüsterte sie.
»Was meinst du?«
»Du weißt schon.«
»Wir haben doch nicht mal ein Dutzend Worte miteinander gewechselt, seit wir hier sind.«
»Ist auch nicht nötig«, erwiderte Nina trocken. »Ich kenne deinen Gesichtsausdruck, wenn du etwas willst, besser als irgendjemand sonst.«
Stanton tat die Bemerkung mit einem Achselzucken ab. »Ich kenne sie ja kaum.«
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Chel an Deck kam, das erste Mal seit Stunden. Sie bewegte sich langsam und zog sich am Handlauf hoch. Die seltsame Unterhaltung, die Stanton und Nina geführt hatten, wirkte noch nach, und Chel glaubte eine leichte Veränderung im emotionalen Klima zu spüren.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Sie sollten was essen«, antwortete Nina ausweichend. »Ich hab Junkfood für mindestens ein Jahr da unten.«
»Ja, das werde ich, danke.« Chel wandte sich Stanton zu. »Wir sollten uns die Karten und den Routenverlauf zusammen ansehen. Ich habe schon mal angefangen, die verschiedenen Wege vom Izabal-See aus zu berechnen und anhand der Informationen, die wir haben, die Orte zu bestimmen, wo die Stadt möglicherweise gestanden haben könnte.«
Er nickte. »Ja, sicher. Ich komme sofort.«
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