»Ich müsste vorher noch telefonieren. Darf ich das Satellitentelefon benutzen?«
Stanton gab es ihr, und sie ging wieder nach unten.
Nina flüsterte: »Die Frau hat gerade ihren Freund verloren, sie wurde von ihrem Mentor aufs Kreuz gelegt, und man hat ihr dieses alte Buch gestohlen. Wenn mir das alles passiert wäre, würde ich Jahre brauchen, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen könnte. Und was tut sie? Arbeitet einfach weiter! Ich kenne nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der das auch fertigbringen würde. Worauf wartest du also, verdammt noch mal? Kannst du nicht ein Mal deinen Verstand ausschalten?«
***
Chel las vom Display des Telefons ab, dass es kurz nach acht Uhr morgens war an diesem 18. Dezember. Noch drei Tage bis zum Ende der Langen Zählung. Noch drei Tage, bis Victor und alle anderen begreifen würden, dass sie Rolando wegen eines Scheißkalenders getötet hatten. Chel würde sich bis an ihr Lebensende Vorwürfe machen, weil sie den Kontakt zu ihrem Mentor wiederaufgenommen und ihn von Neuem in ihr Leben gelassen hatte. Wie konnte er so etwas tun? Das würde ihr für immer ein Rätsel bleiben. Im Geist ging sie wieder und wieder jede Einzelheit durch, angefangen bei ihrem Besuch im Museum of Jurassic Technology bis zu jenem schrecklichen Moment in ihrem Labor und bis zu Victors Verschwinden. Was hatte sie übersehen? Hatte es irgendeinen Hinweis darauf gegeben, wozu er wirklich fähig war, und sie hatte es nicht erkannt?
Sie wählte langsam die Nummer, die sie am besten kannte. Die Mobilfunknetze waren hoffnungslos überlastet, aber diese Verbindung kam schnell zustande. Nach dem dritten Läuten wurde abgenommen, und sie hörte die von atmosphärischen Störungen überlagerte Stimme ihrer Mutter.
»Chel?«
»Kannst du mich verstehen, Mom?«
»Chel, wo bist du? Kannst du in die Kirche kommen?«
»Geht es dir gut?«, fragte Chel. »Bist du in Sicherheit?«
»Ja, alles in Ordnung, wir sind hier sicher. Aber mir wäre wohler, wenn du herkommen könntest.«
»Hör zu, Mom, ich kann nicht lange reden. Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht mehr in Los Angeles bin.«
»Wo willst du denn hin?«
»Nach Kiaqix. Und von dort werden wir uns auf die Suche nach der versunkenen Stadt machen.«
Ein kurzes Schweigen, dann sagte Ha’ana in resigniertem Ton: »Ich wollte nie, dass du das gleiche Risiko eingehst wie ich, Chel.«
»Was willst du damit sagen, Mom? Mom?«
Die Verbindung war unterbrochen. Chel wählte noch einmal, aber sie fuhren gerade unter einer Wolkenbank hindurch, und das Signal kam nicht zustande. Sie schaltete das Telefon aus, um die Batterie zu schonen. Im Grunde war ja auch alles gesagt. Ha’ana hatte wieder einmal auf das Risiko angespielt, das sie eingegangen war, um sich und ihre Tochter in Sicherheit zu bringen. Aber in Chels Augen hätte sie sehr viel mehr Mut bewiesen, wenn sie in Kiaqix geblieben wäre. Stanton kam herunter. Er sah Chel prüfend an. Er spürte, dass sie eine Ablenkung brauchte, daher fragte er: »Wollen Sie mir nicht erzählen, was uns in Kiaqix erwartet?«
Sie lächelte leicht, als sie antwortete: »Bäume, so hoch, dass sie in den Himmel zu wachsen scheinen, mit rosaroten Blüten und grünem Moos, das aussieht wie Rauschgold. Mehr Tiere auf einer Quadratmeile als auf der exklusivsten Safari in Afrika. Ganz zu schweigen von dem süßesten Honig, den Sie je gegessen haben.«
»Klingt, als wär’s das Paradies.«
Zum ersten Mal wurde Chel von der Erkenntnis übermannt, dass sie tatsächlich in ihre Heimat zurückkehrte. Stanton fasste nach ihrer Hand, beugte sich langsam zu Chel hinunter und küsste sie leicht auf den Mund. Sie war überrascht, aber es machte sie glücklich. Seine Lippen schmeckten salzig. Wie die Meeresluft.
Sie sah ihn unverwandt an. Aber als er sich von ihr löste, griff sie nach einer der bereitliegenden Karten, hielt sie hoch und meinte: »Wollen wir uns an die Arbeit machen?«
***
Ensenada lag an einer Bucht, die Bahía de Todos Santos hieß; Plan A kam kurz vor zwölf Uhr mittags dort an. Nina steuerte auf einen zwölf Meter langen Hatteras-Fischerkahn zu, der fünf Meilen vor der Küste dümpelte. Sie konnten es nicht riskieren, näher ans Ufer zu fahren, hatte Stanton gewarnt, weil die mexikanischen Behörden garantiert nach amerikanischen Booten Ausschau hielten, deren Passagiere auf der Flucht vor der Epidemie waren.
Nina fuhr längsseits an das Fischerboot heran. Dominguez, der Kapitän, war ein stämmiger Mann mit einem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht. Vor einigen Jahren hatte Nina einen Artikel für ein Magazin über ihn geschrieben, weil er an der Goldküste bekannt dafür war, dass er selbst in den am schwierigsten zu befahrenden Gebieten Makrelen fing. Er sprach nur ein paar Brocken Englisch, aber er hieß die Amerikaner mit einem angespannten Lächeln auf seinem Boot willkommen.
Sie luden die Ausrüstung um und bezahlten die vereinbarten viertausend Dollar. Dann konnte es losgehen.
»Vielen Dank noch mal«, rief Chel Nina von dem Fischerkahn aus zu.
»Viel Glück!« Mit Tränen in den Augen nickte Nina zu Stanton hin. »Passen Sie gut auf ihn auf!«
Stanton sprang noch einmal auf die Plan A hinüber. Eine kräftige Brise war aufgekommen. Er ging in die Hocke und strich Dogma ein paar Mal über den Kopf. Dann richtete er sich wieder auf und nahm Nina in die Arme.
»Ich schätze, es ist reine Zeitverschwendung, wenn ich dir sage, du sollst keine Dummheiten machen, oder?«, flüsterte sie.
»Tja, dafür ist es jetzt wohl ein bisschen zu spät. Ich hoffe, du weißt, wie sehr ich dich liebe.«
Eine gute Minute lang hielten sie einander umschlungen. »Sieh zu, dass du deinen Arsch wieder heil nach Hause kriegst, okay?«
***
Die Fahrt auf dem mexikanischen Abschnitt des Kalifornienstroms verlief ohne Zwischenfälle. Am darauffolgenden Morgen fuhren sie kurz nach Tagesanbruch um die Spitze von Baja California herum und hielten dann Kurs Richtung Osten. Da ihr Kapitän ein Einheimischer war, konnten sie die wenigen Kontrollen der Küstenwache nahe Cabo problemlos passieren. Schließlich steuerten sie den Hafen von Mazatlán an. Der Duft von frittiertem Teig wehte von den Karren der Straßenhändler herüber. Das Leben hier schien seinen gewohnten Gang zu gehen, und falls irgendjemand sich wegen VFI sorgte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
Nachdem sie angelegt hatten, schmierte Dominguez einen Hafenmeister und sagte ihm, sie bräuchten einen Van oder einen Geländewagen. Eine halbe Stunde später hatten sie einen alten silberfarbenen Jeep für zweieinhalbtausend Dollar. Sie luden ihre Sachen vom Boot in den Wagen um und verabschiedeten sich von Dominguez.
Am Flughafen von Mazatlán waren mit Maschinengewehren bewaffnete Wachen am Eingang postiert. Die Leute musterten Stanton und Chel misstrauisch. Anders als im Hafen waren einige Passagiere an diesem bedeutenden Verkehrsknotenpunkt sichtlich beunruhigt beim Anblick von Stantons Gringogesicht. Im Charterterminal wartete eine schlechte Nachricht auf sie: Sämtliche Chartermaschinen waren ausgebucht – wer es sich leisten konnte, versuchte möglichst viel Abstand zwischen sich und die Epidemie zu bringen. Hinzu kam, dass sie eine Maschine brauchten, die groß genug war, um den neu erworbenen Jeep an Bord zu nehmen.
Nach einer halben Stunde vergeblicher Bemühungen belauschte Chel zufällig die Unterhaltung eines schmächtigen, zwergenhaft kleinen Maya Anfang, Mitte zwanzig. Er sprach Chor’ti, einen Maya-Dialekt, der im Süden Guatemalas und im Norden von Honduras gesprochen wurde. Chel beherrschte zwar die moderne Form dieser Regionalsprache nicht, aber diese war eng verwandt mit der Maya-Sprache des Altertums, und Chel glaubte zu verstehen, dass der Mann so etwas war wie ein Transportflugzeugpilot. Sie wandte sich an ihn. Er war so klein, dass sogar sie ihn überragte.
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