»Qué está haciendo aquí?«, fragte sie auf Spanisch.
Sie hatte keine Ahnung, woher dieser ladino kam oder was er hier wollte. Sie dachte an die Warnung ihrer Mutter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie langsam zurückwich. »Estoy aquí con un médico. Gabe! Gabe!« Sie schrie, so laut sie konnte, aber ihre Stimme war nur ein Flüstern. Sie bekam keine Luft mehr.
Der ladino stürzte sich auf sie und warf sie zu Boden. Er riss ihr den Augenschutz herunter und hielt ihr mit einer Hand den Mund zu. Chel wehrte sich verzweifelt. Sie versuchte zu schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Sie schlug nach seinem Gesicht, doch er begrub sie förmlich unter sich mit seiner massigen Gestalt und drückte ihr mit der anderen Hand den Hals zu. Sie wusste, was er möglicherweise an den Händen hatte, daher kniff sie die Augen zusammen, so fest sie konnte. Es würde nur nichts mehr nützen: Sie wäre tot, bevor sie krank werden konnte.
Ich bin Chel Manu, Tochter von Alvar Manu. Töte mich, wie du meinen Vater getötet hast.
Das war ihr letzter Gedanke, bevor der Schuss fiel.
32

Stantons Hände zitterten, als er den Schlüssel ins Zündschloss steckte und den Motor anließ. Er hatte einen Mann getötet. Die Waffe, die er dazu benutzt hatte, lag griffbereit auf seinem Schoß. Da draußen in der Dunkelheit musste es noch mehr Infizierte geben, trotzdem schien es ihm sicherer zu sein, diesen Ort zu verlassen. Chel saß benommen und in sich zusammengesunken auf dem Beifahrersitz. Sie würden erst in ein paar Stunden wissen, ob der Mann sie infiziert hatte, bevor Stanton ihn erschossen hatte. Nicht einmal mit dem Schnelltest war ein rascheres Ergebnis möglich.
Die Scheinwerferkegel erfassten winzige Moskitoschwärme, als sie die Straße hinunter in das eigentliche Dorf fuhren. Stanton hatte das Fernlicht eingeschaltet, und jetzt sah er, woher die schwarze Rauchsäule gekommen war, die sie von der Landepiste aus gesehen hatten. Ein Gebäude, etwa so groß wie das Krankenhaus, war niedergebrannt. Wände und Dach waren eingestürzt, der Kalkstein durch die Hitze geborsten. Ein Haufen rauchende Trümmer.
»Das ist die Schule«, murmelte Chel tonlos.
Sie fuhren weiter. Auf beiden Seiten der Straße tauchten Hütten auf, oder besser gesagt, das, was davon übrig geblieben war. Alle paar Hundert Meter standen vier bis sechs solcher Hütten, kleine Häuschen ohne Fenster, mit nur einem einzigen Raum und mit einer einzigen Tür. Die lehmverputzten Holzwände waren eingerissen worden, die Palmwedel, mit denen die Dächer gedeckt waren, heruntergerissen. Mitten auf der Straße lagen Dutzende Hängematten; es sah aus, als wären sie aus einem der Häuser geschleift und dann einfach hier liegen gelassen worden. Achtlos zur Seite geworfene Stoffe in Rot und Gelb und Grün und Lila waren halb von Morast bedeckt, und die Räder des Jeeps rollten ruckelnd über diesen Friedhof der Farben.
Stanton wäre am liebsten aus dem Dorf hinausgefahren, um irgendwo auf freiem Feld zu übernachten. Sie durften nicht Gefahr laufen, noch einmal angegriffen zu werden. Andererseits würde der Jeep dann vielleicht mehr Aufmerksamkeit erregen, als wenn sie ihn irgendwo versteckten und für die Nacht in einer der verlassenen Hütten Unterschlupf suchten.
Er fuhr langsam an einem Haus vorbei, das noch unbeschädigt zu sein schien. »Weißt du, wer dort wohnt?«, fragte er und zeigte darauf.
Chel antwortete nicht. Sie wirkte völlig abwesend.
Stanton stellte den Jeep kurzerhand ab, stieg aus, öffnete die Beifahrertür und führte Chel zu dem Haus. In der freien Hand hielt er die Smith & Wesson. Er klopfte. Als niemand antwortete, stieß er die Tür mit dem Fuß auf.
Das Erste, das der Strahl seiner Taschenlampe erfasste, waren zwei Leichen in einer Hängematte. Eine junge Frau und ein Kleinkind. Sie mussten seit mindestens einer Woche tot sein.
Stanton drehte sich um und versuchte, Chel den Blick auf die Leichen zu versperren, aber es war zu spät. Sie stand hinter ihm in der Tür und starrte die Frau und das Kind an.
»Wir müssen sie begraben«, sagte sie mit einer Stimme, die ihm völlig fremd war. »Ich brauche Weihrauch.« Sie war offenbar nicht bei klarem Verstand.
»Das geht nicht. Wir müssen hier weg.« Er packte sie an der Hand und zog sie hinter sich her zur nächsten Hütte. Drinnen fanden sie keine Leichen, nur auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke, eine kaputte Hacke und einige Keramikschüsseln. Stanton kickte mit dem Fuß alles zur Tür hinaus.
»Glaubst du, hier sind wir sicher?«, brachte Chel hervor.
Er wusste es nicht, aber etwas Besseres würden sie vermutlich nicht finden. »Nimm deinen Augenschutz auf keinen Fall ab«, schärfte er ihr ein.
Erschöpft ließen sie sich auf die festgestampfte Erde fallen, wo sie sich, mit dem Rücken an einer Wand, eng aneinanderschmiegten. Stanton kramte einige Müsliriegel aus seinem Rucksack und zwang Chel, wenigstens ein paar Bissen zu essen. Schließlich knipste er die Taschenlampe aus. Er hoffte, Chel würde ein bisschen schlafen können. Er selbst würde versuchen, wach zu bleiben.
»Weißt du, warum wir Weihrauch für die Toten verbrennen?«, fragte sie leise.
»Nein. Warum?«
»Ohne den Rauch kann die Seele eines Toten nicht in die Unterwelt gelangen. Wir alle hier sind in einer Zwischenwelt gefangen.«
Chel hatte ihm in den letzten Tagen eine ganze Menge über die Sitten und Bräuche ihres Volkes erzählt, aber nicht mit diesem schwermütigen, bedrückten Unterton. Stanton hätte sie gern getröstet, aber er wusste nicht, wie. Nur Gläubige fanden in Momenten wie diesen die richtigen Worte. Und so wandte er sich lieber den Dingen zu, mit denen er sich auskannte. Er war immer noch überzeugt, dass irgendeine Substanz den König und dessen Gefolge vor VFI geschützt hatte, bevor es in Kanuataba zum Ausbruch der Krankheit gekommen war. Morgen würden sie diese Substanz finden. »Wir haben eine Landkarte und die Koordinaten für den Izabal-See, und sobald es draußen hell wird, brechen wir auf.«
Chel antwortete nicht. Sie bettete ihren Kopf in seine Armbeuge, und Stanton spürte, wie sie sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn lehnte und wie ihre Haut seine berührte.
»Vielleicht hat Victor recht gehabt«, flüsterte sie. »Vielleicht ist Flucht der einzige Ausweg, der uns noch bleibt.«
***
Stanton fuhr aus dem Schlaf hoch. Auf der anderen Seite der Mauer stapfte etwas über das nasse Laub. Chel kauerte bereits an der hinteren Wand und lauschte angestrengt. Man konnte ein schrilles, quiekendes Geräusch hören.
Stanton griff nach seiner Waffe.
Dann hörte Chel noch etwas anderes, eine Stimme, die in Qu’iche sagte: »Vertreib die bösen Winde, Hunab Ku!«
»Was ist da draußen los?«, fragte Stanton leise.
Chel bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Mein Name ist Chel Manu«, rief sie in Qu’iche. »Ich bin aus Kiaqix. Mein Vater war Alvar. Ich bin mit einem Doktor hier. Er kann dir helfen, wenn du krank bist.«
Eine sehr kleine alte Frau mit hüftlangen Haaren erschien im Türrahmen. Sie trug eine Brille mit dicken Gläsern auf der breiten Nase.
Stanton ließ die Waffe sinken. In der Ferne donnerte es. Die Frau kam langsam und mit schwankenden Schritten näher.
»Sind böse Winde in diesem Haus?«, fragte sie auf Qu’iche.
»Wir sind nicht krank. Wir sind hier, um herauszufinden, was die Krankheit ausgelöst hat. Ich bin Chel Manu, die Tochter von Alvar. Bist du krank?«
»Seid ihr über den Himmel gekommen?«, fragte die Greisin.
Chel nickte. »Ja. Ist deine Familie krank?«
»Ich bin nicht verflucht.«
Chel streifte Stanton mit einem flüchtigen Blick. Er zeigte auf seine Augen. Die Brille. Die Brille hatte sie wahrscheinlich vor Ansteckung geschützt, so wie ihn und Chel eine Woche zuvor in L.A.
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