»Wann seid ihr gekommen?«
Sie seien etwa fünf Stunden zuvor in Kiaqix angekommen, erwiderte Chel.
»Frag sie, ob es im Dorf noch andere Überlebende gibt«, sagte Stanton.
»Fünfzehn oder zwanzig«, antwortete die Frau, als Chel übersetzt hatte. »Die meisten sind in den Häusern am Rand des Dorfes. Ein paar verstecken sich im Dschungel und warten darauf, dass die bösen Winde weiterziehen. Hurakan, der Gott der Stürme, wird uns retten.«
»Wann hat es angefangen?«, fragte Chel.
»Vor zwanzig Sonnen. Bist du wirklich Chel Manu?«
»Ja.«
»Wie ist der Name deiner Mutter?«
»Meine Mutter ist Ha’ana. Kennst du sie?«
»Natürlich«, antwortete die alte Frau. »Ich bin Yanala. Du und ich, wir haben uns vor vielen Jahren kennengelernt.«
»Yanala Nenam? Die Tochter von Muram, dem großen Weber?«
»Das bin ich«, bestätigte die alte Frau.
Chel zögerte. »Ist von meiner Familie noch jemand am Leben?«, fragte sie besorgt.
»Eine von deinen Tanten ist unter den Überlebenden. Initia die Ältere. Sie wäre vielleicht selber hergekommen, aber das Gehen fällt ihr schwer. Kommt!« Yanala winkte ihnen, ihr zu folgen.
***
Die alte Frau führte Chel und Stanton durch Seitenstraßen und über Felder. Als sie auf eine Lichtung kamen und auf eine kleine Anhöhe mit ein paar Häusern zugingen, wurde Chel durchzuckt von der einzigen Kindheitserinnerung an diesen Ort: Sie sah sich als kleines Mädchen auf den Schultern ihres Vaters, der den erhöhten Weg entlangging.
Aber jetzt waren keine jungen Mädchen da, die Eimer voll Maismehl trugen, jetzt drang keine Musik aus den Häusern.
Über allem lag eine gespenstische Stille.
Yanala führte sie zu einem kleinen, aus Holzbalken errichteten Haus, dessen dickes Strohdach noch unversehrt war. Sie traten nacheinander ein. Der Raum war vollgestopft mit alten Holzmöbeln und mit Hängematten; eine Wäscheleine war von einer Wand zur anderen gespannt. Über einer Feuerstelle aus großen Steinen wurden Tortillas gebacken, und der Duft von Mais hing in der Luft.
Yanala ging in den hinteren Teil der Hütte. Kurz darauf öffnete sich die Hintertür, und eine noch ältere Frau kam herein. Sie hatte ihre langen silbergrauen Haare zu einem Zopf geflochten, den sie kranzförmig am Kopf festgesteckt hatte. Sie trug eine huipil in Lila und Grün, die mit einem Dutzend bunter Perlenschnüre geschmückt war. Chel erkannte Initia sofort.
Die Frau stützte sich an den Möbeln ab, als sie langsam auf die Besucher zuging. »Chel?«
»Ja, Tante«, antwortete sie auf Qu’iche. »Ich habe einen Doktor aus Amerika mitgebracht.«
Initia trat ins Licht. Jetzt erst konnte man sehen, dass die Iris in beiden Augen mit einem trüben, milchigen Film überzogen war. Grauer Star, dachte Chel. Das hatte ihr vermutlich das Leben gerettet.
»Ich kann nicht glauben, dass du wirklich hier bist, Kind.«
»Geht es dir gut, Tante?«, fragte Chel, als sie sich umarmten. »Bist du nicht krank? Kannst du schlafen?«
»Soweit man in meinem Alter noch schlafen kann«, antwortete Initia. Sie bat Chel und Stanton mit einer Handbewegung, an einem kleinen Holztisch Platz zu nehmen. »Du bist so lange nicht mehr hier gewesen, und ausgerechnet jetzt kommst du zurück. Wie ist das möglich?«
Chel erzählte ihr von den Ereignissen in L.A., und Initia hörte ungläubig zu.
Dann sagte sie: »Du bist durch das Dorf gegangen, du hast gesehen, was die bösen Winde auch hier angerichtet haben.«
»Frag sie, wer als Erster krank geworden ist«, warf Stanton ein.
»Malcin Hanoma«, antwortete die Greisin.
»Wer ist das?«, fragte Chel.
»Volcy hatte keine leiblichen Brüder, deshalb hat er zusammen mit Malcin Hanoma, dem Sohn von Malam und Chela, das Land bestellt und bepflanzt. Sie sind auch zusammen weggegangen, um nach den Schätzen aus der versunkenen Stadt zu suchen. Volcy ist nie zurückgekommen, Malcin schon. Er war verletzt, und er brachte den Fluch über uns, den Zorn unserer Vorfahren.«
»Wie schnell hat es sich ausgebreitet?«
»Malcins Familie war als Erste betroffen. Ihre Kinder konnten nicht mehr schlafen; keiner von denen, die mit ihm unter einem Dach wohnten, konnte mehr schlafen. Das war die Strafe der Götter, und innerhalb von wenigen Tagen haben die bösen Winde immer schneller und schneller um sich gegriffen.«
Chel schloss die Augen, als sie sich die Katastrophe vorzustellen versuchte, die über das Dorf hereingebrochen war. Wie lange hatte es gedauert, bis die Menschen aufeinander losgingen? Bis sie durchdrehten? Und die Kirche verwüsteten, die Schule niederbrannten, das Krankenhaus plünderten?
»So viele schreckliche Dinge sind hier passiert, Tante«, flüsterte sie betroffen.
Initia erhob sich mühsam und winkte den beiden, ihr zu folgen. Sie schlurfte zur Hintertür. »Nicht nur schreckliche.«
Gleich hinter dem Haus stand eine Hütte, deren Eingang ganz mit Palmwedeln zugedeckt war. Sie schoben sie auseinander, und Initia schlüpfte als Erste hinein. »Lasst die Winde nicht herein«, rief sie Chel über die Schulter zu.
Eingepackt in bunte Tücher, die von der Decke hingen wie Hängematten, lagen mindestens ein Dutzend Babys. Einige weinten leise, andere lagen ganz still da, mit offenen Augen, manche schliefen friedlich.
Yanala kümmerte sich um mehrere Kinder gleichzeitig. Initia half ihr: Sie liebkoste ein kleines Mädchen, das unentwegt weinte, während sie ein anderes mit dünnem Maisbrei fütterte. Dann drückte sie Stanton einen kleinen Jungen in den Arm und Chel ein Mädchen. Es war noch sehr klein und hatte flaumige Haarbüschel auf dem Kopf, eine breite Nase und dunkelbraune Augen, die hin und her huschten, sich dabei aber nie auf Chel richteten.
»Ein Säugling braucht die Nähe seiner Mutter, er muss neben ihr in der Hängematte schlafen und an ihrer Brust trinken, wenn er Hunger hat«, sagte Initia. »Aber diese Kinder hier haben ihre Mütter verloren und mit ihnen alles, was sie so dringend brauchen.«
»Wo hast du sie gefunden, Tante?«
»Ich wusste, in welchem Haus erst vor Kurzem ein Kind geboren worden ist, weil alle zusammenkommen, um die Ankunft eines neuen Lebens zu feiern. Also haben Yanala und ich uns auf die Suche nach Überlebenden gemacht. Ein paar Kinder waren unter Palmwedeln versteckt gewesen, andere lagen einfach so da.«
Chel sah Stanton an. »Wie lange werden sie immun sein?«
»Ungefähr sechs Monate«, antwortete er und wiegte den kleinen Jungen auf dem Arm. »Bis die Sehnerven vollständig ausgebildet sind.«
»Das ist Sama«, sagte Yanala und deutete mit dem Kinn auf das kleine Mädchen auf Chels Arm.
Der Name kam ihr bekannt vor. »Sama?«
»Die Tochter von Volcy und Janotha.«
Fassungslos schaute Chel das Kind an, dessen geöffnete Augen nass waren. »Das ist ihre Tochter? Volcys Tochter?«
Yanala nickte. »Sie hat als Einzige aus der Familie überlebt.«
Volcys Tochter. Und er hatte sich so sehr gewünscht, sie wiederzusehen, als er in der Fremde im Sterben lag.
»Verstehst du jetzt, Kind?«, sagte Initia.
»Was meinst du, Tante?«
»Die Sonne wird noch ein Mal aufgehen und wieder untergehen, dann ist das Ende der Langen Zählung gekommen. Und wenn es so weit ist, wird nichts mehr so sein, wie es war. Vielleicht ist das, was wir jetzt erleben, schon der Anfang vom Ende. Aber Itzamnaaj, der allergnädigste Gott, hat in seiner Barmherzigkeit dafür gesorgt, dass unsere Jüngsten überlebt haben, und sie sind unsere Zukunft. Im Popol Vuh steht geschrieben, dass nach der Zerstörung, die mit dem Ende eines jeden Zyklus einhergeht, ein neues Menschengeschlecht die Erde bevölkern wird. Diese Kinder sind die fünften Menschen.«
12.19.19.17.19 – 20. DEZEMBER 2012

Читать дальше