»Dr. Manu«, sagte Shetter, »wir wären Ihnen und Ihren Kollegen sehr verbunden, wenn Sie kooperieren würden. Mark und David werden die Glaskästen jetzt einpacken. Ich weiß, wie zerbrechlich sie sind, wir werden so vorsichtig sein wie möglich, und deshalb muss ich Sie jetzt bitten, aus dem Weg zu gehen. Gehen Sie hinter den Tisch.« Shetter zog eine Waffe aus dem Hosenbund. Sie war so klein, dass sie aussah wie ein Spielzeug. Er hielt sie lässig an seiner Seite.
Chel warf einen kurzen Blick zu der Gegensprechanlage neben der Tür. Es waren keine fünf Meter bis dorthin, aber sie musste an Shetters Leuten vorbei. Sie kamen langsam auf sie zu, den Einkaufswagen hinter sich her ziehend wie kleine Jungs ihren Schlitten. Chel rührte sich nicht vom Fleck. Keine zehn Pferde würden sie von der alten Handschrift wegbringen.
Lieber würde sie sterben, als ihnen den Kodex zu überlassen.
»Warum tun Sie das, Victor?«, fragte Stanton. »Was zum Teufel soll das?«
Victor achtete nicht auf ihn. Er sah Chel an, und seine Worte waren ausschließlich an sie gerichtet: »Hör zu, Chel. Du kannst mit uns kommen. Wir gehen zurück in das Land deiner Väter. In deine wahre Heimat. Aber wir müssen das Buch haben. Flucht ist der einzige Weg, der uns noch bleibt, Chel.«
Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie antwortete: »Nur über meine Leiche, Victor. Wenn du das Buch haben willst, musst du mich vorher umbringen.«
Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab und sah deshalb nicht, wie Rolando lossprintete und durch den Raum zur Gegensprechanlage lief. Sie hörte nur den Schuss, der ihn aufhielt, bevor er bei der Tür war.
Und die dumpfe Stille unmittelbar danach.
Einen Sekundenbruchteil lang war Chel wie gelähmt. Dann rannte sie los. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie den Raum durchquert hatte. Niemand hielt sie auf.
Sie fiel neben Rolando auf die Knie. Sie sah das Blut erst, als sie seinen Kopf in ihren Schoß gebettet hatte. Er hielt sich mit einer Hand den Bauch. Sein Hemd war bereits blutgetränkt. Chel legte ihre Hand auf seine.
Shetter zielte immer noch in ihre Richtung. Obwohl die Hand, die die Waffe hielt, nicht zitterte, schien er selbst überrascht zu sein, dass er tatsächlich einen Schuss abgefeuert hatte.
»Ich bin Arzt.« Stanton machte einen Schritt nach vorn. »Lassen Sie mich zu ihm!«
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, befahl Shetter.
»Nehmen Sie, was Sie wollen, und verschwinden Sie«, sagte Stanton. »Aber lassen Sie mich zu ihm.« Er machte einen kleinen Schritt und dann noch einen, und als Shetter ihn nicht aufhielt, lief er zu Rolando und Chel hinüber. Shetter hielt seine Waffe auf die drei gerichtet.
Chel presste ihre Hand fest auf die Wunde am Bauch. Der Blutfluss war nicht zu stoppen. Sie redete leise und beruhigend auf Rolando ein, damit er bei Bewusstsein blieb.
Victor stand stumm, wie versteinert hinter Shetter.
»Los, ladet das Zeug ein!«, befahl Shetter seinen Männern.
Sie brauchten nicht einmal eine Minute, um die alte Handschrift in den Glaskästen in den Einkaufswagen zu laden. Sie schoben den Wagen aus dem Labor, und Shetter folgte ihnen. In der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Kommst du, Hüter des Tages?« Er war sich Victors Antwort so sicher, dass er sie nicht abwartete, sondern weiterging.
Victor rührte sich nicht. Er schaute benommen zu, wie Stanton eine Hand auf Rolandos Bauchwunde presste, während er mit der anderen eine Herzmassage ausführte.
Chel hielt Rolandos Kopf mit ihren blutverschmierten Händen, strich ihm über die Haare, in denen jetzt auch Blut klebte, und versuchte krampfhaft, nicht auf die immer größer werdende Blutlache unter ihnen zu starren.
»Chel …«, begann Victor. »Ich … ich wusste nicht, dass er eine Waffe hatte. Es tut mir leid. Ich –«
»Das ist deine Schuld, Victor!«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Ganz allein deine Schuld. Raus hier! Verschwinde!«
Er wandte sich zum Gehen. In der Tür hielt er kurz inne und sagte leise: »In lak’ech.« Dann war er fort.
Kurz darauf sah Chel die Scheinwerferkegel eines Autos über die Fenster streichen, bevor es in die Nacht davonfuhr.
Sie wusste, sie würde weder Victor noch die alte Handschrift jemals wiedersehen. Das wären die letzten Worte gewesen, die er zu ihr sagen würde.
In lak’ech – ich bin du, und du bist ich.
30

Aschewolken von den Waldbränden in den Santa Monica Mountains lagen über der Schnellstraße. Drei F-15 im Formationsflug donnerten vorbei und hinterließen helle Kondensstreifen am dunkelgrauen Nachthimmel. Der Pacific Coast Highway glich einem heruntergekommenen Gebrauchtwagenhof: Hunderte Fahrzeuge standen kreuz und quer, sie waren von ihren Fahrern nach einem Unfall oder nachdem das Benzin ausgegangen war, einfach stehen gelassen worden. Es war fast kein Durchkommen.
Zwei Stunden nachdem Victor Shetter und seine Männer am Sicherheitsdienst vorbei vom Gelände des Museums geschleust hatte, saß Chel auf dem Beifahrersitz neben Stanton und starrte schweigend aus dem Fenster. Ihre verzweifelten Bemühungen, Rolando zu retten, waren umsonst gewesen. Er hatte zu viel Blut verloren, und als Stanton seine Wiederbelebungsversuche aufgegeben hatte, waren auch er und Chel voller Blut gewesen. Fast zwanzig Minuten hatte Chel ihren toten Freund in den Armen gehalten, ihn sanft gewiegt und ein Gebet in Qu’iche gesprochen, damit er sicher im Jenseits ankäme.
Sie und Stanton hatten bisher kein Wort über die Ereignisse verloren, aber sie wussten beide, was zu tun war. Stanton bog von der Schnellstraße ab in Richtung Santa Monica State Beach. Der Sandstrand war verlassen. Auf dem Parkplatz stand nur ein einziges Fahrzeug: Stanton hatte Davies angerufen und sich hier mit ihm verabredet.
Er war überrascht, als ein zweiter Mann aus dem Auto seines Partners stieg. »Hey, Doc, was geht?«, sagte Monster.
»Mann, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht«, erwiderte Stanton. »Wo hast du denn gesteckt?«
»Die Bullen haben uns aus der Show geworfen, und da haben die kleine Electric Lady und ich uns in dem Tunnel unter dem Santa Monica Pier verkrochen. Du glaubst ja gar nicht, wie praktisch es ist, wenn man eine Freundin hat, die ihr eigenes Licht erzeugen kann.«
Falls Chel verblüfft war über diese Begegnung mit dem exotischsten Freak, den Venice zu bieten hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie schwieg. Sie war mit ihren Gedanken ganz offensichtlich woanders.
»Wie habt ihr zwei euch denn gefunden?«, fragte Stanton und nickte zu Davies hin, als sie seinen Wagen auszuladen begannen.
»Ich war bei dir zu Hause in Venice«, antwortete Monster. »Ich hab geklopft, und als niemand aufgemacht hat, bin ich rein. Mit den ganzen Mäusen überall sieht’s bei dir aus wie nach einem Experiment, das gründlich in die Hose gegangen ist, Bruder. Tja, und als du nicht zurückgekommen bist, hab ich mir gedacht, ich ruf bei dir im Labor an. Wollte nur mal hören, ob alles in Ordnung ist.«
»Zum Glück bin ich rangegangen und nicht einer von Cavanaghs Laufburschen«, sagte Davies. »Sie lässt jeden unserer Handgriffe im Forschungszentrum überwachen. Ich hätte nicht mal einen Objektträger dort hinausschmuggeln können, geschweige denn ein Mikroskop.«
Stanton sah Monster an. »Dann habt ihr das ganze Zeug aus meinem Haus geholt?«
»Klar. Electra hat mir dabei geholfen. Sie ist noch dort und kümmert sich um die Mäuse.«
»Ihr solltet dort bleiben, bis sich die Lage beruhigt hat.«
»Die Frage ist, wann das sein wird. Aber danke für das Angebot, Doc.«
Davies fand, dass es an der Zeit war, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Und ihr glaubt wirklich, ihr könnt diesen Ort ohne das Buch finden?«, fragte er.
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