»Nein, ich meine, wovor könnte er sich so sehr fürchten, dass diese Angst eine solche Reaktion auslöst? Es muss etwas anderes sein, eine urwüchsige Angst. Eine angeborene.«
»Sie meinen, so wie die Angst vor Inzest«, sagte Chel.
»Ganz genau. Könnte es das sein?«
Chel schüttelte langsam den Kopf. »Blutschande war verboten. Von den Göttern. Von allen. Und es würde auch keinen Sinn ergeben. Was hätten die Gottesanbeterinnen damit zu tun?«
Genau in dem Moment, als sie diese Worte aussprach, kam ihr ein Gedanke, ein Gedanke, den sie währen ihrer gesamten Laufbahn immer tunlichst beiseitegeschoben hatte.
Sie hatte sich von Anfang an gewünscht, dass die alte Bilderhandschrift beweisen würde, dass ihr Volk seinen Untergang nicht selbst herbeigeführt hatte.
Aber was, wenn es doch so war?
27

Vierzig Mal ist die Sonne wiedergekehrt, während ich gefastet und nichts als Maismehlbrühe und Wasser zu mir genommen habe. Kein Regen ist auf unsere Felder oder auf unsere Wälder gefallen, und in den Wasserspeichern geht das Wasser immer mehr zurück. Überall in der Stadt fängt man an, Wasser und Mais und Maniok zu horten, und es heißt, manche trinken ihren eigenen Urin, um ihren Durst zu stillen. In zwanzig Sonnen wird es kein Wasser mehr geben.
Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich, dass einige nach Norden ziehen wollen, auf der Suche nach Land, das sie bestellen könnten, aber Jaguar Imix hat verkünden lassen, dass jeder, der Kanuataba verlässt, mit dem Tod oder mit noch Schlimmerem bestraft wird. In den ärmsten Winkeln von Kanuataba hat es in den letzten zwanzig Sonnen achtzehn Todesfälle gegeben, darunter viele Kinder; sie sind verhungert, weil sie bei der Zuteilung der Rationen als Letzte bedacht werden.
Früher war unsere Stadt im Umkreis von zehn Tagesmärschen ein Umschlagplatz für die besten Waren. Aber Jadeschmuck ist nutzlos, und abgesehen von denen, die mit der Erhaltung der königlichen Kleinodien und der Geschichtsschreibung betraut sind, so wie ich, gibt es für die Handwerker nichts mehr zu tun. Nicht mehr Ohrgehänge aus Perlmutt und Federumhänge in schillernden Farben sind die begehrtesten Güter für die adligen Frauen, sondern Tortillas und Limonen. Eine Mutter, deren Kinder nichts mehr zu essen haben, verschwendet keinen Gedanken an goldene Medaillons, mögen sie auch noch so heilig sein.
Als die Sonne gestern im Zenit stand, wurde ich in den Palast befohlen.
Ich ließ Auxilas Töchter in meiner Höhle zurück, ich wusste, mein Krafttier würde in meiner Abwesenheit über sie wachen. Jaguar Imix, der allerheiligste König, war gerade erst zurückgekehrt von seinem weit entfernten Sternenkrieg. Er befahl mich zu sich, um mir die Bedeutung des Gottes Akabalam zu offenbaren, damit ich den Prinzen auch in Zukunft unterrichten könnte.
Als ich einige Hundert Schritt von der Mitte unserer Stadt entfernt war, weniger als tausend Schritt von dem Platz, wo die neue königliche Grabstätte errichtet werden soll, konnte ich nicht glauben, was ich sah. Dicker schwarzer Rauch stieg über den Türmen des kleinen Tempels auf, unserer heiligen Katakombe. Und als ich um die Ecke bog, sah ich eine solche Menge von versammelten Männern und Frauen, wie ich sie seit sechshundert Sonnen in Kanuataba nicht mehr gesehen hatte.
Ich wusste, dass für diesen Tag eine Versammlung angekündigt worden war, aber ich hätte nicht im Traum gedacht, dass sie so groß und so prachtvoll sein würde. Ich kann nicht beschreiben, was ich empfand beim Anblick des lebendigen Treibens. Es war wie in meiner Kindheit, als ich auf den kräftigen Schultern meines Vaters über den Markt getragen wurde, zwischen den geschäftigen Händlern hindurch. Man munkelte, Jaguar Imix habe ein Wunder vollbracht, er werde die Massen speisen, und es gebe so viel, dass wir bis zur nächsten Ernte mit Nahrung versorgt seien.
Ich sah, wie Männer große Mengen von Gewürzen und Holz und Jade zur Südtreppe des Palastes trugen. Sie brachten auch Salz und Piment und Koriander, dazu über dem Feuer getrocknete Pfefferschoten; das waren die Gewürze, die man für Truthahn- und Hirschfleisch brauchte. Auch mein Magen knurrte vor Hunger. Aber die Sklaven sagten, im Umkreis von zwei Tagesmärschen gebe es weder Hirsche noch Truthähne noch Agutis. Hatten Jaguar Imix und seine mächtigen Krieger Fleischvorräte erbeutet?
Der königliche Zwerg trat neben mich. Ich werde wiedergeben, was er sagte, damit alle wissen, zu welch niederträchtigen Machenschaften er fähig war. Er sprach:
– Wenn die Menschen dich so gut kennen würden wie ich, Schreiber, und wenn sie wüssten, dass du diese beiden Mädchen niemals anrühren würdest, würde man dir deine Konkubinen wegnehmen. Dein Leben könnte um zehntausend Sonnen verkürzt werden und das Leben dieser Mädchen dazu. Daher rate ich dir, nie wieder mein Missfallen zu erregen. –
Noch nie in meinem Leben hatte ich einen so heftigen Drang verspürt, eines Mannes Leib ausbluten zu lassen und ihm das Herz herauszureißen. Ich wünschte, es käme zu irgendeinem Tumult, der laut genug wäre, dass er Jacomos Schreie erstickte. Ich würde diesen Zwerg in Stücke reißen und irgendwo verscharren.
Doch bevor ich meine Hand gegen ihn erheben konnte, wurde ich von einem lauten Lärmen abgelenkt. Blau bemalte Gefangene, fünfzehn an der Zahl, wurden herbeigezerrt. Sie waren an eine lange Stange gebunden und an den Händen und am Hals aneinandergefesselt. Einige konnten sich kaum noch auf den Beinen halten, so lange waren sie schon unterwegs. Viele schienen halb tot zu sein.
Ich bemerkte die Tätowierungen auf dem Oberkörper eines der Gefangenen, ein Zeichen für seine vornehme Herkunft. Noch nie habe ich einen Adligen gesehen, der sich im Angesicht des Todes so ängstlich gebärdet hätte. Er schrie und wand sich, während er weitergeführt wurde, seine Füße schleiften über den Staub und wirbelten ihn hoch. Den Aufsehern war anzumerken, dass auch sie so etwas noch nie erlebt hatten. Was für ein unwürdiges Gebaren! Nur ein kranker Geist konnte die Seele dieses Adligen so versehrt haben, dass er sich nicht in sein Schicksal fügte.
Ich bahnte mir einen Weg an den Wirtschaftern, Schneidern, Konkubinen vorbei. Die Schwitzhütte, ein kuppelförmiger Raum, befindet sich ganz oben im Turm, ein hochheiliger Ort, um mit den Göttern in Verbindung zu treten und ihre Weissagungen zu empfangen. Normalerweise haben hier nur die engsten Gefolgsleute des Königs Zutritt.
Als ich das Schwitzbad betrat, sah ich, dass der König allein war, was nach meiner Erinnerung in tausend Sonnen nicht mehr vorgekommen war. Sein Gesicht war eingefallen und abgezehrt, es wirkte so wenig heilig wie noch nie zuvor. Nicht einmal ein Sklave oder eine Ehefrau von niederem Rang waren anwesend, um seine Wünsche zu erfüllen.
Der König sprach:
– Ich habe dich hierher befohlen, Paktul, damit du bei den Vorbereitungen des großen Festmahls zugegen bist und alles in den großen Büchern für die Nachwelt festhalten kannst. –
Ich ließ mich neben den glühenden Kohlen auf die Knie sinken, und die Hitze war unerträglich. Aber da es eine große Ehre war, in die Schwitzhütte gebeten zu werden, wollte ich mir nicht anmerken lassen, wie ich litt. Ich sprach:
– Erhabener, du hast recht, wir müssen in den Büchern über das große Fest schreiben, aber ich möchte dich noch einmal bitten, mir zu erklären, warum die Götter uns mit diesem üppigen Mahl segnen, wo sie uns sonst doch keineswegs wohlgesonnen sind. Ich möchte verstehen, warum wir uns heute an einem Festessen laben, aber an allen anderen Tagen Hunger leiden. –
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