»Soweit ich weiß, geht es ihm gut. Er ist immer noch mit Kimberly in Palm Beach.«
Ezra ging in die Küche, durch die man das Apartment betrat. Alle Zimmer der Wohnung lagen in einer Reihe hintereinander, wie bei einem Eisenbahnwaggon. Erst kam die Küche, dann das Schlafzimmer und nach vorne raus das Wohnzimmer.
»Willst du einen Kaffee?«, fragte sein Onkel und deutete auf ein Glas mit Folger’s Instantkaffee auf der Arbeitsplatte. »Ich wollte mir gerade einen machen.«
»Ja, das wäre klasse. Ich habe an der Wiener Bäckerei angehalten, um dir ein Plunderstückchen mitzubringen, aber sie haben mich nicht reingelassen.«
Maury lachte leise auf. »Das kann ich ihnen nicht verdenken. Du siehst aus, als wärst du gerade aus der Klapse entwischt.«
In gewisser Weise fühlte er sich auch genau so. Diese gespenstische Stimme, tief, eindringlich und seltsam unheilvoll, hallte erneut in seinem Kopf wider.
Maury nahm einen zweiten Becher aus dem Abtropfgestell, löffelte etwas löslichen Kaffee hinein. »Willst du ihn stark?«, fragte er, und als Ezra nickte, fügte er weitere Löffel hinzu. Er goss das kochende Wasser ein und ging dann voraus ins Wohnzimmer.
Sein Onkel setzte sich in seinen Relaxsessel aus weißem Kunstleder mit Heizkissen und Massagefunktion, und Ezra nahm ihm gegenüber auf dem Sofa Platz. Von den Wänden hingen die Tapeten wie Schriftrollen herunter.
»Ich warte immer noch auf eine Antwort«, sagte sein Onkel. »Das ist keine übliche Zeit für einen Besuch. Was ist los?«
Ezra nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Ich konnte nicht schlafen und habe einfach einen Spaziergang gemacht.«
»Gertrude hat mir erzählt, dass du nachts überhaupt nicht mehr schläfst. Sie sagt, dass du nicht vor der Morgendämmerung zu Bett gehst und erst am Nachmittag aufstehst. Was treibst du nachts, Ezra?«
»Ich arbeite.«
»Kannst du nicht tagsüber arbeiten wie die meisten Menschen?«
»In der Nacht ist es besser. Ruhiger. Weniger Unterbrechungen.« Bis auf diese spezielle Nacht natürlich.
Maury wirkte nicht überzeugt. »Was sagt deine Ärztin dazu? Diese Dr. Neumann?«
»Ich habe nicht mit ihr darüber geredet.«
»Vielleicht solltest du das tun. Sie verschreibt dir doch Medikamente, gegen die Stimmungsschwankungen und so?«
»Ja«, sagte Ezra. Er schaute hinunter auf seine Tasse und staunte über die Art und Weise, wie das Lampenlicht in buntschillernden Kreisen auf der Oberfläche des heißen Kaffees reflektiert werden konnte. Er hatte Dr. Neumann nichts von seiner Schlaflosigkeit erzählt, da er wusste, dass sie ihm nur ein Schlafmittel verschreiben würde, und Schlaf war nicht das, was er wollte. Nicht solange er eine so aufregende Arbeit machte und an so bahnbrechendem Zeug dran war. Die einzigen Mittel, die er von ihr verschrieben haben wollte, waren die Pillen, die ihm halfen, sich zu konzentrieren, ihn wach hielten und weit genug beruhigten, damit er sich ganz der im Moment vor ihm liegenden Arbeit widmen konnte.
Das war der Grund, weshalb er ihr auch nichts von der Stimme erzählen würde, nicht erzählen konnte , die er diese Nacht gehört hatte, genauso wenig, wie er seinem Onkel davon erzählen konnte. Er wusste, wohin das führen könnte: bestenfalls zu endlosen Therapiesitzungen, schlimmstenfalls würde er gegen seinen Willen eingewiesen werden. Die Schriftrolle fügte sich Stück für Stück zusammen, aber es war eine irrsinnige Aufgabe, die einen glatt verrückt machen konnte. In der Tat war genau das vielen seiner Vorgänger passiert, wie Ezra besser als jeder andere wusste. Der Erste, der diesen Fluch zu spüren bekommen hatte, war Shapira gewesen, jener Mann, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Erster einige alte Manuskripte am Ufer des Toten Meers entdeckt hatte. Zu seinen Lebzeiten hielt man seine Entdeckungen für Fälschungen. Nichts, so folgerten die Forscher damals, hätte so lange in solch unwirtlichem Klima überdauern können. Nachdem Shapira lange Jahre berufliche Verachtung und Zurückweisung hatte erdulden müssen, mietete er sich in einem Hotel in Rotterdam ein und jagte sich eine Kugel in den Kopf. Nach den erstaunlichen Funden von Qumran 1947 war Shapira rehabilitiert. Andere machten dort weiter, wo er aufgehört hatte, oft genug mit ähnlich fatalen Folgen. Schriftrollenforscher waren bekannt dafür, leicht dem Wahnsinn und der Verzweiflung anheimzufallen, für ihren Alkohol-und Drogenmissbrauch und ihre Neigung zu Selbstmord. All das kam ziemlich regelmäßig vor, und einen solchen Fall kannte Ezra sogar persönlich. Eine Australierin, die bedeutendste Autorität in Bezug auf die Religion der Essener, hatte im Schrein des Buches in Jerusalem mit den Schriftrollen vom Toten Meer gearbeitet. In weniger als zwei Jahren war sie zu einer brabbelnden Fanatikerin geworden, die über die bevorstehende Apokalypse phantasierte und vor einem allgegenwärtigen Gespenst davonlief, das sie den Schattenmann nannte. Bei einer Konferenz in Haifa stürzte sie auf das Podium, und nachdem sie etwas über die Söhne des Lichts geschrien hatte, zündete sie sich selbst an. Sie überlebte mit schweren Verbrennungen und wurde nach Hause nach Melbourne geschickt, wo sie, seinen letzten Informationen nach, unter starken Medikamenten und permanenter Betreuung in einem privaten Sanatorium lebte.
Ezra wusste also, dass man sich sehr gut im Griff haben musste, wenn man die Schriftrollen studierte.
»Gertrude hat mich gestern angerufen«, sagte sein Onkel Maury in diesem Moment. Ezra blickte von seinem Kaffee auf. »Sie hatte ein paar Neuigkeiten, und sie will sie dir heute erzählen, sobald du aufgewacht bist.«
»Was ist es denn?«
»Dein Vater und Kimberly kommen aus Palm Beach zurück. In ein paar Tagen werden sie wieder in New York sein.«
Das waren in der Tat Neuigkeiten. Direkt nach dem Streit am Abendbrottisch hatten sie ihre Sachen gepackt und waren ohne ein Wort in sonnigere Gefilde geflüchtet.
»Dein Vater ist nicht unbedingt ein Typ, mit dem man einfach zurechtkäme«, gab Maury zu, »und manchmal weiß ich nicht, wie deine Mutter es all die Jahre mit ihm ausgehalten hat. Aber wenn du in der Wohnung bleiben willst, und Gertrude sagte mir, dass du das willst, dann solltest du etwas mehr dafür tun. Du musst dich mehr bemühen, Ezra.«
Natürlich hatte sein Onkel recht, obwohl Ezra keine Ahnung hatte, wie diese Bemühungen aussehen könnten. Wenn seine Mutter noch leben würde, wäre es kein Problem. Sie war auf alles stolz gewesen, was er getan hatte, sei es das Bild eines Pferdes, das er gemalt hatte, oder weil er bei einer Spielshow im Fernsehen die richtigen Antworten erraten hatte. Es war sein Vater, dem das, was er tat, niemals gut genug war. Es war sein Vater, der stets glaubte, sein Sohn sei ihm nicht gewachsen. Der nichts von dem verstand, was Ezra Spaß machte oder für das er sich interessierte. Alles, worauf Sam Metzger sich verstand, war, wie man Geld verdiente, indem man Bürogebäude, Parkhäuser und Einkaufszentren hochzog. Was er auch anfasste, verwandelte sich in Gold, während alles, was Ezra berührte, zu Staub zerfiel.
Aber die Schriftrolle würde alles ändern. Was Ezra hier tat, würde die ganze Welt aufhorchen und von ihm Notiz nehmen lassen. Und dann würde sein Vater ihn endlich wahrnehmen und zugeben müssen, dass Ezra etwas getan hatte, etwas von so großer Tragweite, wie selbst er, der große Sam Metzger, es nicht geschafft hatte. Wenn dieser Tag käme, würde es der süßeste in Ezras Leben sein.
Und er war nicht mehr weit entfernt.
Doch was sollte er ihm in der Zwischenzeit als Friedensangebot anbieten? Einen Kuchen backen? Ihnen einen Brief mit einer Entschuldigung auf das Kopfkissen legen? »Ich versuche nur, meine Arbeit zu machen«, sagte er schlicht.
»Gut. Tu das«, sagte Maury, stellte seinen Kaffeebecher auf den Fußboden und rappelte sich aus dem Sessel auf. Das morgendliche Sonnenlicht strömte durch die schmutzigen Fenster in die Wohnung. »Ich könnte jetzt ein paar Plunderstücke vertragen. Wie sieht’s mit dir aus?«
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