»Und was machen wir bis dahin?«, fragte Joe.
Das fragte Carter sich ebenfalls. Beth war mit Abbie unterwegs und half ihr, Vorhänge und Tapeten für das Landhaus auszusuchen, das sie und Ben im Norden gekauft hatten. Beth hatte vorgeschlagen, dass sie beide am kommenden Halloween-Wochenende hinfahren und sich das Haus selbst ansehen könnten. Für heute hatte Carter geplant, den Großteil des Tages mit der Anlieferung und dem Aufbau des Fossils zu verbringen.
»Wir könnten hinüber zum Bio-Gebäude gehen«, schlug er vor. »Ich kann dir schon mal das Labor zeigen, in dem wir am Fossil arbeiten werden.«
»Ja, das ist eine gute Idee«, sagte Joe und ergriff die Gelegenheit. »Ich würde sehr gerne zuerst das Labor sehen.«
Bevor sie die Wohnung verließen, gab Carter Joe einen Regenschirm und nahm einen zweiten für sich selbst mit. Es sah aus, als könnten sie die Dinger jeden Augenblick brauchen. Draußen wehte ein kalter Wind, und die Bäume im Park, deren Äste vom Wind gebeugt wurden, verloren ihre letzten goldenen und orangefarbenen Blätter. Auf der Straße waren nur die Menschen, die immer dort waren: das obdachlose Paar, das auf einer Bank in der Nähe des Washington Archs lebte, der Schachsüchtige in der Mets-Jacke, der gegen sich selbst spielte, wenn sonst niemand gegen ihn antrat, der Möchtegerncomedian, der unter dem kaputten Springbrunnen auf einer Obstkiste stand und durch ein Megaphon brüllte.
Als sie sich dem Bio-Gebäude näherten, sagte Carter: »Ich zeige dir zuerst das Hauptlabor, wo ich die alltäglichen Arbeiten erledige.«
Das Gebäude war verwaist und leer, und im Flur war nur eine Neonröhre eingeschaltet, für die ganz Harten, die sogar am Sonntag arbeiteten. Carter führte Joe den Flur entlang, und zu seiner Überraschung hörte er laute Musik aus dem Hauptlabor der Fakultät dröhnen. Obwohl, wenn er genauer darüber nachdachte, gab es keinen Grund, überrascht zu sein, Eminem oder einen der anderen Rapper, die er nie auseinanderhalten konnte, zu hören.
»Du wirst gleich einen Typen namens Bill Mitchell kennenlernen«, vertraute er Joe an, »ein Juniorprofessor an diesem Fachbereich.«
Die Tür war angelehnt, und Mitchell saß an seinem üblichen Platz hinten. Sein Ghettoblaster stand auf dem Tresen, das strähnige schwarze Haar hing ihm vor der Brille.
»Hey, Bill!«, rief Carter laut, damit er trotz der Musik zu hören war.
Missmutig blickte Mitchell auf. In der einen Hand hielt er eine Bürste, in der anderen einen schwarzen Stein, bei dem es sich vermutlich um einen Kotstein handelte, versteinerte Exkremente.
»Ich würde dir gerne einen Freund von mir vorstellen, Giuseppe Russo. Er lehrt an der Fakultät der Universität in Rom.«
Das Wort Fakultät genügte, damit Mitchell seinen Ghettoblaster ausschnipste und mit ausgestreckter Hand von seinem Stuhl aufsprang. »Ich bin Bill Mitchell. Freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen. Sie sind Paläontologe?«
Carter konnte beinahe hören, wie es in Mitchells Hirn ratterte. Ob es in Italien freie Stellen gibt? Wie schwer wäre es wohl, sich einzugewöhnen? Wie ist der momentane Wechselkurs?
»Ja, das bin ich«, sagte Joe. »Carter und ich haben vor Jahren zusammen auf Sizilien gearbeitet.«
Mitchell schaltete schnell. »Dann gehörten Sie also zum Team, das die Knochengrube entdeckt hat?«
Joe lächelte. Auch Wissenschaftler fühlten sich geschmeichelt, wenn ihr Ruf ihnen vorauseilte. »Ja, ich war dabei.«
»Eine großartige Leistung, eine bahnbrechende Arbeit«, schwärmte Mitchell. Dann hielt er inne, und sein Gesicht verdüsterte sich, und Carter konnte sich denken, warum. »Besuchen Sie nur Carter oder suchen Sie nach einer Stelle hier an der NYU?« Mit einem weiteren vollwertigen Professor über ihm auf der Karriereleiter würden Mitchells Aussichten auf eine Beförderung noch schlechter.
»Nein, nein. Ich bin nur für kurze Zeit hier, um zusammen mit meinem alten Freund an einer Sache zu arbeiten.«
Mitchell spitzte die Ohren, was Carter lieber nicht gesehen hätte.
»Tatsächlich? Was ist es?«
»Etwas, das ein paar technischer Analysen bedarf«, mischte Carter sich ein. »Nichts Besonderes.«
Als er das hörte, warf Joe ihm einen raschen Blick zu und begriff augenblicklich. »Manchmal, in Italien«, stimmte er um Mitchells willen zu, »haben wir nicht die Maschinen, die wir brauchen. Das ist alles.«
Aber Mitchell hatte bereits Lunte gerochen, und Carter wusste, dass er nicht so schnell wieder lockerlassen würde. »Werden Sie hier in diesem Labor arbeiten?«, fragte er. »Ich würde mich echt freuen, wenn ich Ihnen helfen könnte.«
»Nein, das ist nicht nötig«, sagte Carter. »Wir haben einen abgetrennten Bereich vorbereitet.« Carter tat es leid, dass er überhaupt so viel verraten musste. Er wollte das Projekt so geheim wie möglich halten, und ganz bestimmt wollte er den armen Mitchell nicht mit der Vorstellung quälen, dass buchstäblich vor seiner Nase eine weltbewegende Entdeckung gemacht wurde, eine jener Entdeckungen, die einem über Nacht eine Festanstellung bescherten.
Dann bemerkte er den orange-schwarzen Briefumschlag, der mit Klebeband an seinem eigenen Laborstuhl befestigt war.
»Was ist das?«, fragte Carter, und ehe er ihn öffnen konnte, platzte Mitchell heraus: »Eine Einladung zur Party.«
Carter zog die Karte, eine schwarze Katze mit ausgefahrenen Krallen, aus dem Umschlag. Das Kleingedruckte brauchte er indes gar nicht zu lesen.
»Sie findet am Abend vor Halloween statt«, erklärte Mitchell. »Wir dachten, dass dann mehr Leute kommen.«
»Tut mir leid, aber Beth und ich sind an dem Wochenende gar nicht in der Stadt.« Er blickte zu Joe hinüber, den diese Neuigkeit nicht im Geringsten zu beeindrucken schien. »Sorry, ich wollte es dir noch sagen.«
»Schade, dass ihr es nicht schafft«, sagte Mitchell, doch dann wandte er sich an Joe und fügte hinzu: »Aber vielleicht können Sie ja kommen? Je mehr, desto gruseliger.«
Carter reichte die Einladung an Joe weiter. »Warum nicht?« Ihm würde ein Stein vom Herzen fallen, wenn er wüsste, dass Joe sich amüsierte, während er auf dem Land war.
»Wir wohnen ganz in der Nähe«, fuhr Mitchell fort, »und meine Frau backt unglaubliche Brownies.«
»Danke«, sagte Joe, nickte und steckte die Einladung in seine Hemdtasche. »Ich werde mich freuen, zu kommen.«
»Wir sehen uns«, sagte Carter und führte Russo zur Tür. »Aber wir wollen dich nicht länger von der Arbeit abhalten.«
»Kein Problem«, erwiderte Mitchell und stand da wie ein Kind, das man einfach stehengelassen hatte. »Und denkt daran, falls ihr Hilfe braucht, braucht ihr bloß ein Wort zu sagen.«
Nachdem sie den Raum verlassen und Carter die Tür hinter sich geschlossen hatte, bedeutete er Joe, ihm zu folgen. Schweigend gingen sie den Korridor entlang und bogen um die Ecke, ehe Carter sagte: »Der Typ ist ganz in Ordnung, aber er schnüffelt gerne herum.«
Joe nickte. »Er ist sehr … beflissen.«
»Und wir sind vermutlich besser dran, wenn er nicht weiß, was hier passieren wird.« Mit diesen Worten öffnete Carter eine Metalltür, schaltete das Licht an und führte Joe durch einen Lagerraum, vollgepackt mit Kartons, Holzkisten und ausrangierten Geräten und Einrichtungsgegenständen. Am gegenüberliegenden Ende befand sich eine weitere Feuerschutztür, und um diese öffnen zu können, musste Carter einen Metallhebel hochziehen und dann mit der Schulter kräftig dagegendrücken. Quietschend schob sich die Tür über den Zementboden.
»Willkommen in deinem zweiten Zuhause«, sagte Carter, verbeugte sich und winkte Joe herein.
Eine geriffelte Metallrampe führte etwa einen Meter in die Tiefe. Joe stapfte hinunter und hielt sich dabei am eisernen Handlauf fest, und Carter folgte ihm. Schließlich standen sie in einem riesigen, einem Rohbau ähnlichen Raum mit schmutzigem Betonfußboden, dessen Wände von aufgestapelten Holzkisten verdeckt waren. Zwei riesige, durch schwere Vorhängeschlösser gesicherte Tore führten auf die Laderampe draußen an der Straße. In der am weitesten entfernten Ecke hockte Hank, der Hausmeister, an einem alten angeschlagenen grauen Schreibtisch. Er hatte eine Zeitung, ein Telefon und einen tragbaren Fernseher auf den Tisch gestellt und sah etwas, das nach einer Naturkundesendung klang. Carter verstand etwas wie »schnell floss das klare Wasser im breiten Strom dahin«. Als sie hereinkamen, blickte Hank auf und sagte: »Hey, Dr. Cox. Ich sitze hier schon den ganzen Tag, und kein Schwein hat sich mit irgendwas blicken lassen.«
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