»Nicht? Was ist er noch? Mitglied der Royal Family?«
»Nein, er ist beinahe vom College geflogen. Und weißt du auch, warum? Weil er und Clohessy sich des Sympathisantentums mit der IRA verdächtig gemacht haben.«
Lavallier stutzte. Er sah aus den Augenwinkeln zum Fenster herüber. O’Connor beschrieb soeben irgendwelche Dinge mit großer Geste.
»Sympathisant?«, fragte er. »Oder mehr?«
»Nachweislich nicht mehr. Im Gegensatz zu Clohessy. Aber das will ja nichts heißen.« Er machte eine Pause. »Vielleicht hatten sie in den letzten Jahren mehr Kontakt zueinander, als O’Connor vorgibt.«
»Ah, Monsieur le Commissaire!«
O’Connor hatte ihn erspäht. Die Gruppe löste sich auf und kam vom Fenster herüber. Plötzlich fand sich Lavallier im Mittelpunkt. Mahder schob den Mann im Overall nach vorne.
»Josef Pecek«, sagte er.
»Angenehm«, sagte Pecek. Er war klein, muskulös und untersetzt, mit drahtigem schwarzem Haar und dunklen Augen.
»Wir kennen uns bereits«, ergriff O’Connor das Wort, bevor Lavallier etwas sagen konnte. »Gestern Nachmittag auf dem Flughafen war er in… äh, Ryan O’Deas Begleitung, sie haben verschiedene Male miteinander gearbeitet. Sehen Sie? Pecek ist unser Mann! Sie müssen ihn nur noch fragen.«
Der Alkoholgeruch, den O’Connor am frühen Morgen ausgeströmt hatte, war weitestgehend verschwunden. Der Ire strahlte ihn an. Die Augen in dem gebräunten Gesicht blitzten, und Lavallier hatte das Gefühl, in Bedeutungslosigkeit zu versinken.
»Ich…«
»Können wir Kuhn nicht noch einmal anrufen?«, bat Wagner.
Lavallier hob die Hände.
»Langsam! Eins nach dem anderen. O’Connor, Sie setzen sich jetzt mal da rüber.« Er atmete tief durch und wies auf den kleinen Konferenztisch schräg gegenüber vom Schreibtisch. »Nein, Sie setzen sich bitte alle.«
Er wartete, bis sie sich an dem runden Tisch verteilt hatten. Da gefielen sie ihm zumindest besser als am Fenster.
»Bleiben Sie sitzen«, sagte er mit erhobenem Finger. »Ich komme gleich wieder.«
Er zog Bär am Ärmel hinaus auf den Flur und deutete hinter sich.
»Was soll diese Partygesellschaft?«
»Ich konnte nichts dafür«, verteidigte sich Bär. »Mahder brachte Pecek mit, sie sind zu dir ins Büro, und da trafen sie auf Wagner und O’Connor. Ich kam dazu, die Unterhaltung kam in Gang, na ja.«
»Das heißt, wir können es vergessen, Pecek unter sechs Augen zu verhören.«
»Das hat gewissermaßen schon O’Connor–«
»Verdammt! So ein Idiot.«
»Eric…«
»Du bist auch ein Idiot.«
»He, nun mal langsam, so wild ist das alles gar nicht. Weder Mahder noch O’Connor haben Pecek irgendwelche Informationen gegeben. Dieser Physiker tut sich bloß dicke, um dir eins auszuwischen.«
»Mir eins auszuwischen? Na, toll! Warum denn eigentlich?«
»Der ist so! Purer Übermut, was regst du dich auf.« Bär zog an seiner Zigarette. »Eric, im Ernst, Pecek weiß nicht, worum es geht, er weiß auch nicht, dass sein Kumpel Ryan eigentlich Paddy heißt. Alles klar?«
»Was soll denn klar sein? Habt ihr Pecek überprüft?«
»Ja, natürlich.«
»Und?«
»Es liegt nichts gegen ihn vor. Untadeliger Lebenslauf.«
Lavallier schnaubte. Er sah zur Tür seines Büros und dann wieder zu Bär.
»Was ist mit O’Deas – ich meine Clohessys Wagen?«
»Noch nicht gefunden. Hör zu, du hast mich eben ja nicht ausreden lassen…«
»O’Connor hat uns nicht ausreden lassen«, berichtigte ihn Lavallier verärgert.
»Wie auch immer. Punkt eins, es gibt in unseren Akten keinen Derjak. Das Ähnlichste war ein Ten Haake aus Belgien, und der sitzt. In ganz Europa haben wir niemanden dieses Namens, wie es aussieht. Jetzt brüten die Amerikaner über der Sache.«
»Gut. Zweitens.«
»Wir haben versucht, Kuhn auf seinem Handy zu erreichen, zwecklos. Wir probieren es weiter. Dafür hat uns Dublin ein paar dezidierte Informationen zu Clohessy zukommen lassen. Sie wissen natürlich auch nicht alles, aber dass Clohessy mit der IRA gebrochen hatte und von denen gesucht wird, scheint sich zu bestätigen.«
Lavallier zog die Brauen zusammen.
»Das heißt, Clohessys falsche Identität…«
»Na ja, wir wollen nicht allzu optimistisch sein. Aber wie es aussieht, könnte es sich tatsächlich um eine interne Sache der Iren handeln. Clohessy wollte offenbar raus, weil er zu dem Schluss gelangte, die IRA hätte sich erledigt. Alles, was jetzt noch folgen würde, wäre kein Kampf mehr um eine gerechte Sache, sondern nur noch Terror aus Perspektivlosigkeit.«
»Woher wissen die das?«
»Von V-Leuten aus Ulster. Er hat versucht, sich friedlich abzusetzen, aber sie wollten ihn nicht gehen lassen.«
Dasselbe, was ich eben der Geschäftsleitung erzählt habe, dachte Lavallier. Der extremistische Flügel wird weitermachen, ungeachtet dessen, ob es einen Sinn ergibt oder nicht. Clohessy dürfte ein wandelndes Verzeichnis der technischen Intelligenz der Iren sein. Einer der wenigen, die im Stande wären, den Engländern wirklich zu helfen im Wettlauf um die ausgefeilteste Technologie, weil er wusste, wie die IRA dachte.
Es war sonnenklar, dass sie ihn erledigen mussten.
»Wir haben auch Kuhn überprüft«, sagte Bär.
»Und?«
»Alter Achtundsechziger. Hat sich in den Studentenrevolten engagiert, aber eher als Mitläufer. Hier und da ein bisschen aufgefallen durch Äußerungen zur Situation der Dritten Welt, nichts Ernsthaftes. Dasselbe unausgegorene Zeug, das auch Baader-Meinhof umtrieb, allerdings gibt es keine Berührungspunkte zu RAF, Bewegung 2. Juni, Rote Zellen und wie sie alle hießen. Eine Nacht im Knast verbracht, weil er den einzigen Stein in seinem Leben geworfen und dummerweise sofort jemanden getroffen hat. Danach wird er bürgerlich und tüchtig. Karriere durch verschiedene Verlage, einige Jahre als Korrespondent in den Staaten, mittlerweile Cheflektor bei Rowohlt und O’Connors persönlicher Betreuer.«
»Politisch engagiert?«
»Eher retrospektiv und theoretisch. Aber er scheint ein fähiges Köpfchen zu sein. Wir haben seinen Verlag angerufen, er hatte natürlich keinerlei Anweisung, heute irgendwohin zu fahren.«
»Klar. Was hast du denen erzählt?«
Bär winkte ab. »Nichts. Sie wollten natürlich tausend Dinge wissen.
Interessant ist, dass diese Kirsten Wagner – O’Connor nennt sie Kika – als Wachhund auf O’Connor angesetzt wurde. Sie ist seine Pressereferentin, aber ihr eigentlicher Auftrag lautete sicherzustellen, dass er nicht zu sehr über die Stränge schlägt.«
»Mir kommt es vor, als hätte sich der Wachhund an die Leine legen lassen«, sagte Lavallier zweifelnd.
»Mir auch. Kuhn und O’Connor kennen sich jedenfalls eine ganze Reihe von Jahren. Ich weiß nicht, was sie über den Job hinaus miteinander verbindet, aber nehmen wir mal an, Clohessy glaubt – es würde ja reichen, wenn er es nur glaubt –, O’Connor sei ihm im Auftrag der IRA auf den Fersen. Er wird natürlich unruhig. Nachts sieht er O’Connor und Wagner dann vor seinem Haus stehen, und Kuhn rückt ihm sogar auf die Bude.«
»Hm.«
»Gefällt dir nicht, was?«
»Doch«, beeilte sich Lavallier zu versichern. »Es gefällt mir sehr gut. Weißt du, es gefällt mir irgendwie zu gut. Es würde so viele Probleme lösen, dass ich gar nicht wage, weiter darüber nachzudenken, nur dass mir diese SMS nicht schmeckt: Derjak schießt, Pieza, Spiglen und der ganze Rest. Sie passt irgendwie nicht in deine Theorie. – Haben wir übrigens was in Clohessys Wohnung gefunden?«
»Nichts, was auf einen Kampf hindeutet. Keine signifikanten Fusseln, Haare, ich sagte ja, es scheint, als sei er überhastet aufgebrochen und habe ein paar Sachen mitgenommen. Sein Mobiliar kannst du an einer Hand abzählen. Die Spurensicherung hat einiges sichergestellt. Sie nehmen es gerade unter die Lupe. Sie haben einen Block gefunden, Clohessy muss etwas mit der Hand darauf geschrieben und das Blatt dann abgerissen haben, aber die Schrift hat sich durchgedrückt. Vielleicht eine Spur.«
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