Die Frau presste die Lippen aufeinander.
»Ja, ihr habt eure Probleme gelöst.«
Kuhn hing an seiner Kette und machte sich bewusst, was in diesen Minuten geschah. Ein Verschleppter, der möglicherweise nur noch kurze Zeit zu leben hatte, diskutierte mit seiner Entführerin über Krieg und Frieden.
Es war zum Heulen.
Aber vielleicht war es der einzige Weg.
»Ich… würde Sie gern mit einem Namen anreden«, sagte er. »Wenn ich… wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Nenn mich Jana.«
Du hättest das nicht tun sollen, dachte er im selben Augenblick. Je mehr sie dir verrät, desto geringer wird die Chance, dass sie dich leben lässt. Aber jetzt war es ohnehin zu spät.
»Für wen arbeiten Sie, Jana?«, fragte er. »Für Milosevic? Ist er derjenige, der diesen Wahnsinn will?«
»Das wäre einfach, was? Hübsch einfach. Aber die Welt ist nicht so einfach. Ich arbeite nur für einen einzigen Menschen.«
»Für wen?«
»Für eine Frau.«
Eine Frau?
»Und… wer…?«
Sie lächelte. Es war das erste Mal, dass Kuhn sie lächeln sah. Wie schade, dachte er, es ist ein Gesicht, das zum Lächeln geschaffen ist.
»Ich kenne sie noch nicht«, sagte sie beinahe heiter.
»Sie kommen gerade richtig«, sagte Lavallier zu O’Connor. Er nahm eines der Fotos von seinem Schreibtisch und reichte es dem Physiker.
»Ist das der Mann, der Ihnen als Ryan O’Dea vorgestellt wurde?«
O’Connor starrte auf das Bild und gab es an Wagner weiter.
»Ja.«
»Die Bilder sind eben von Europol reingekommen«, sagte Lavallier. »Sie entstammen einer Akte, die ihren Weg aus Belfast nach Dublin fand. Vor Jahren schon. Der Mann, für den die Akte angelegt wurde, heißt Patrick Clohessy.«
»Na also«, sagte O’Connor mit zufriedenem Gesicht und setzte sich. Er kam Lavallier nicht vor wie jemand, der sich vor Sorge verzehrt. Eher, als leite er selbst die Ermittlungen und habe seinem Assistenten gerade eine Lehre fürs Leben erteilt.
Lavallier beschloss, es zu ignorieren. Er nahm den Packen Ausdrucke zur Hand, den die Kollegen aus Dublin vor wenigen Minuten an Bär geschickt hatten, und ließ seinen Blick darüberschweifen.
»Hier steht außerdem, Clohessy habe von 1990 bis Ende 1998 aktiv in den Reihen der IRA gekämpft und trage die Teilverantwortung für eine Reihe von Anschlägen mit Sach- und Personenschäden. Es liegen diverse Haftbefehle gegen ihn vor.« Er sah auf. »Durch seine Mitschuld sollen Menschen gestorben sein. Hätten Sie ihm das zugetraut, Mr. O’Connor?«
»Mord? Non, Monsieur le Commissaire.«
»Tja. Er hat offenbar genug gehabt von seinen rebellischen Freunden. Es gibt Hinweise darauf, dass er Mitte ‘98 seinen Austritt aus der IRA erklärt hat. Die waren nicht gerade begeistert. Der wissenschaftliche Flügel der Armee hat ihm offenbar eine Menge zu verdanken.«
»Paddy?«, sagte O’Connor. »Ja, er war brillant.«
»Was hat er getan, dass man einen Mörder und Terroristen als
brillant bezeichnen könnte?«, fragte Wagner.
Lavallier sah sie an. Er mochte sie für diese Frage.
»Zündungssysteme«, sagte er mit Blick auf die Ausdrucke. »Maßgeblich war er wohl an der Entwicklung einer Radarkanone beteiligt«
»Und das Brillante daran?«
»Die Umstände«, mischte sich O’Connor ein. »Du musst dir vorstellen, dass die Briten immer schon bestens ausgestattete Laboratorien, immense Budgets und ein Heer von Akademikern ins Feld führen konnten, während sich die Forschungsabteilung der IRA in irgendwelchen Kellern und Hinterzimmern herumdrückte. Dafür haben sie ganz schön raffinierte Schaltpläne ausgetüftelt. Die Engländer erfanden später ein System elektronischer Scanner, die Funkausstrahlungen aufspüren und stören können, Zehntelsekunden bevor der Bombenauslöser das Sprengsignal übermittelt. Aber die Radarkanone funktioniert anders. Sie können das Ding nicht orten. Man richtet es auf die Bombe, bevor man es einschaltet. Drückt dann einer aufs Knöpfchen, bleibt keine Zeit mehr, das Signal zu stören. Es ist sofort da.«
»Perfide«, sagte Wagner. »Abstoßend und abscheulich.«
»Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht«, sagte O’Connor. »Abscheulich ist immer nur, was man draus macht.«
Lavallier hatte ihm strinrunzelnd zugehört. Jetzt blätterte er weiter in den Ausdrucken. »Hier ist noch etwas, das er mitentwickelt haben soll. Lichtblitzzündung.«
»Simultane Blitze.« O’Connor nickte. »Ich weiß.«
»Das wissen Sie auch? Sie wissen ja allerhand.«
»Es ist mein Gebiet, wenn Sie gestatten. Ich arbeite mit Licht. Man benutzt ein Fotoblitzgerät, wie man es überall kaufen kann, zündet es in beträchtlicher Entfernung von der Bombe, aber nur, um einen weiteren Blitz anzuregen, der näher dran ist. Und so weiter, bis hin zur Bombe. Ein Blitz speist den nächsten. Zündung und Detonation erfolgen zeitgleich. Ganz einfach.«
Lavallier legte die Ausdrucke beiseite.
Lichtblitze! Bomben!
Es half alles nichts. Er musste die Geschäftsleitung verständigen. Seine Hand wanderte zum Telefon.
»Warten Sie«, sagte Wagner.
»Ja?«
»Mir ist etwas eingefallen. Eben im Hotel. Sie fragten, ob Kuhn komische Dinge gesagt hat.«
Lavalliers Hand verharrte über dem Hörer.
»Und?«
Sie zögerte. »Er sagte: Ich glaube, ich bin heute nicht so ganz bei mir. Musste zu viel überbrücken in der letzten Zeit.«
»Überbrücken? Was musste er denn überbrücken?«
»Keine Ahnung. Ich weiß es eben nicht. Die Formulierung wirkt irgendwie schief, schlecht gewählt. Es klingt, als wollte er sagen, ich musste zu viel aushalten, wegstecken, hatte zu viel um die Ohren. Jemand, der flüchtig zuhört, würde es vielleicht so verstehen. Aber überbrücken passt einfach nicht.«
»In welchem Jahr baute Moses seine Arche?«
»Was?«, fragte Lavallier verwirrt.
O’Connor breitete die Hände aus. »Ist doch ganz einfach. In welchem Jahr baute Moses seine Arche?«
Lavallier grinste dünn.
»Es war nicht Moses, Sie Schlaumeier.«
»Richtig. Aber die Frage ist so gestellt, dass man versucht ist, sich völlig auf das Jahr zu konzentrieren. Man überhört das Offensichtliche. Ich meine, wenn Kuhn nicht allein war, als er mit Kika sprach, wenn er nicht frei reden konnte, dann hat er versucht, ihr Hinweise zu geben. Er hat es so ausgedrückt, damit es klang wie: Hey, mir geht’s nicht gut, ich bin durcheinander, war ein bisschen viel in letzter Zeit.
Vielleicht ist ihm die Finte ja geglückt, und seinen Mithörern ist entgangen, was er wirklich sagen wollte.«
Lavallier sah von ihm zu Wagner und wieder zurück.
»Ich bin nicht ganz bei mir«, wiederholte er langsam. »Soll heißen, ich bin bei jemand anderem. Sie haben mich entführt.«
O’Connor nickte.
»Und was er in letzter Zeit überbrücken musste, kurz vor Kikas Anruf .«
»Ist eine Brücke.«
»Ja. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen war das Maritim. Er ist auf der anderen Rheinseite, schätze ich.«
Lavallier starrte den Physiker einen Moment lang an. Dann wählte er die Nummer der Geschäftsleitung.
»Und?«, fragte O’Connor.
»Was und?«
»Da Sie ja nun über einen Sack voller Informationen verfügen .«
»Ich muss Sie bitten, vorerst zu bleiben.«
O’Connor verzog das Gesicht.
»Können wir wenigstens irgendwas tun?«, fragte Wagner. »Dieses Herumhängen macht mich krank.«
»Sie können Hauptkommissar Bär das Gleiche erzählen, was Sie mir erzählt haben. Er sitzt zwei Räume weiter. Wir bearbeiten den Fall zusammen, und er will Sie sehen.«
»Ich kann nicht endlos zur Verfügung stehen«, sagte Wagner. »Ich muss um halb fünf in Köln sein.«
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