»Und O’Dea?«
»Das Spurensicherungsteam ist in seiner Wohnung zugange, aber wir können jetzt schon sagen, dass O’Dea sich aus dem Staub gemacht hat.«
»Du meinst, er ist untergetaucht?«
Bär schlürfte seinen Kaffee. Er entzündete eine weitere Zigarette und hielt Lavallier die Schachtel hin.
»Immer noch nicht«, sagte Lavallier. »Seit zweiundvierzig Jahren nicht.«
»Richtig. Vergesse ich jedes Mal. Ja, es deutet einiges darauf hin. Die Wohnung wirkt, als sei er überhastet aufgebrochen, hätte aber noch Verschiedenes eingepackt. Aufgerissene Kleiderschränke, offene Schubladen, kaum persönliche Gegenstände. Schließt du irgendwas daraus?«
Lavallier brütete vor sich hin.
»O’Dea hat gestern Mittag erfahren, dass O’Connor ihn erkannt hat«, sagte er halb zu sich selbst. »Abends treffen sie sich dann, und in derselben Nacht macht O’Dea sich aus dem Staub. O’Connor hat er erzählt, er habe die Identität wechseln müssen, weil es Ärger mit der IRA gab.«
»Also weiß O’Connor im Augenblick am meisten.«
»Wie man’s nimmt. O’Connor hört sich gern reden. Ich schätze, er weiß auch nicht mehr als das, was Clohessy ihm erzählt hat.«
»Wenn die Geschichte stimmt«, meinte Bär, »muss die Sache nichts mit unserem Gipfel zu tun haben. Nehmen wir an, Clohessy war tatsächlich bei der IRA. Es gab Ärger, wie du sagst, dann ist es nur natürlich, dass er untertauchen muss. Wer bei den Irisch Republikanischen in Ungnade fällt, kann sein eigenes Grab schaufeln. Er lässt also was springen und verwandelt sich in Ryan O’Dea, einen Mann mit niet- und nagelfester Vita, der es schafft, eine Anstellung an einem deutschen Airport zu bekommen.«
»Warum tut er das?«
»Er will seinen Frieden«, schlug Bär vor.
»Einverstanden. Und weiter.«
»Weiter?« Bär blies die Wangen auf. »Na ja, plötzlich steht O’Connor vor ihm. Seine neue Identität ist geplatzt. Er bekommt Angst und setzt sich ab.«
Lavallier schwieg. Es klang nicht schlecht. Leider klang es auch nicht richtig gut.
»O’Dea und O’Connor sind Studienkollegen und waren befreundet«, sagte er nachdenklich. »Über die Jahre haben sie sich entfremdet, aber Ärger gab’s eigentlich keinen. Jetzt stell dir vor, du bist Clohessy. Dein Persönlichkeitswechsel ist geglückt, du hast die IRA ausgetrickst und dich in Köln etabliert. Eines Tages läuft dir dein alter Kumpel über den Weg und erkennt dich! – Ich meine, klar, du erschrickst, es missfällt dir, aber würdest du deswegen abhauen? Deine mühsam erworbene neue Haut abstreifen? Würde es nicht reichen, O’Connor reinen Wein einzuschenken und ihn zu bitten, um alter Freundschaft willen den Mund zu halten?«
»Was er ja auch getan hat.«
»Eben. Und darum gibt es keinen Grund, einfach so zu verschwinden.«
Bär überlegte.
»Doch«, sagte er. »Zwei sogar.«
Lavallier sah ihn fragend an.
»Erstens«, führte Bär aus, »kann Clohessy nicht wissen, wem O’Connor alles von seiner Entdeckung erzählt hat. Sein Stillschweigen ist also nur die Hälfte wert, selbst wenn er es hoch und heilig verspricht. Zweitens…«
»Ja?«
»…könnte Clohessy Angst vor O’Connor haben.«
»Warum sollte er das?«
Bär zuckte die Achseln.
»Vielleicht ist O’Connor nicht der liebe Onkel. Möglicherweise hatte Clohessy – oder O’Dea, keine Ahnung, wie wir ihn jetzt nennen sollen – berechtigten Grund zu der Annahme, O’Connor würde ihn verpfeifen.«
»Und Kuhn?«
»Ist der Zweite, der Clohessy auf die Spur kommt. Oder wird von O’Connor eingespannt, ebenso wie die Frau. Schau mal, Clohessy hatte doch Recht. O’Connor beschattet ihn, der Lektor treibt sich in seiner Wohnung rum. Also lässt er Kuhn verschwinden und verschwindet dann selbst.«
Lavallier ließ Bärs Theorie sacken. Es war verlockend, daran zu glauben. Sie nahm den Gipfel aus dem Schussfeld.
»O’Deas Wagen habt ihr nicht zufällig gefunden?«, fragte er.
Bär schüttelte den Kopf.
»Wir arbeiten dran. Aber wenn du mich fragst, werden wir ihn nicht finden. Nicht, wenn O’Dea die Flucht ergriffen hat.« Er machte eine Pause. »Womöglich befindet sich Kuhn ja in seiner Gesellschaft.«
Lavallier fuhr sich über die Augen. Was für ein Tag!
»Was schlägst du vor?«
»Fahndungsmeldung«, sagte Bär. »O’Deas Wagen. Er selbst und ein Mann, auf den die Beschreibung Kuhns zutrifft. Ausweitung nach Holland, Belgien, Schweiz und so weiter.«
»Gut. Wo du gerade dabei bist, überprüf einen gewissen Josef Pe- cek. Arbeitet hier als Techniker. Kollege von Clohessy.«
Bär griff mit der Linken nach seinen Zigaretten und mit der Rechten zum Telefon.
Als sie um Viertel nach elf die Augen öffnete, hatten ihre Kopfschmerzen nachgelassen. Dafür war ihre Zunge so trocken, dass sie Mühe hatte, sie vom Gaumen zu lösen.
»Guten Morgen«, sagte O’Connor irgendwo hinter ihr.
Sie strich sich das Haar aus der Stirn und zwinkerte. Vor ihr stand eine halb volle Tasse Kaffee.
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Nicht lange. Eine halbe Stunde. Wir haben Frühstück bestellt, und mittendrin bist du an meine Brust gesunken. Was ich grundsätzlich sehr begrüße.«
»Meine Güte«, stöhnte sie. »Die letzte Nacht. Wessen Idee war es bloß wieder, die verdammte Flasche mit nach oben zu nehmen?«
»Deine«, sagte O’Connor.
»Im Ernst?«
»Ich schätze, du hältst es für protokollarisch unabwendbar, in meiner Gesellschaft Alkohol zu trinken, und ich wollte dich nicht blamieren. Möchtest du einen frischen Kaffee?«
Wagner setzte sich auf und gähnte. Sie saßen im Speisesaal des Holiday Inn. Abgesehen von einem älteren Mann einige Tische weiter schienen sie die einzigen Gäste zu sein. Ein Kellner ging geräuschlos über den weichen Teppichboden. Er schenkte ihnen keine Beachtung.
Kuhn!
Wie hatte sie schlafen können? Es wäre besser gewesen, sie hätte nachgedacht!
»Vergiss den Kaffee«, sagte sie. »Wir müssen rüber aufs Revier.«
»Was willst du da? Lavallier wollte uns abholen, soweit ich mich erinnere. Denk lieber nach, was Kuhn Komisches gesagt hat.«
»Es… fällt mir nicht ein.« Natürlich war ihr nichts eingefallen. Sie hatte geschlafen. Ein fürchterlich schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit. »Und dir? Ist dir was eingefallen?«
»Wegen der SMS?« O’Connor schüttelte den Kopf. »Der Tag wird kommen.«
»Falls wir überhaupt noch Zeit haben«, sagte sie mutlos.
Im selben Moment kam ihr ein Fetzen des Gesprächs mit Kuhn in den Sinn. Sie versuchte daran festzuhalten, weitere Erinnerungen herbeizurufen. Bruchstücke reihten sich aneinander. Plötzlich wusste sie, dass der Lektor gegen Ende des Telefonats etwas Merkwürdiges gesagt hatte. Etwas, das keinen rechten Sinn ergab.
O’Connor beobachtete sie von der Seite.
»Hast du–«
Sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
Da war es!
»Wir müssen rüber«, sagte sie und wandte ihm ihr Gesicht zu. »Ich erinnere mich wieder!«
»Und?«
Tränen stiegen ihr in die Augen. O’Connor sah, was los war, und schlang die Arme um sie. Wagner zitterte. Sie presste sich in ihn hinein und fragte sich, warum der wunderbaren Nacht nicht ein ebensolcher Morgen hatte folgen können.
»Liam.«
»Mhm.«
»Ich habe Angst.«
O’Connor drückte sie fester an sich.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Wie sehr ich dich beneide.«
»Du bist also entführt worden«, sagte die Frau etwas zu ruhig.
Kuhn starrte sie verständnislos an.
Sie schien in sich hineinzuhorchen.
Dann holte sie plötzlich aus und schlug ihn mit dem Handrücken ins Gesicht. Der Lektor heulte auf und zerrte an seinen Handschellen.
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