Sie nickte.
»Was genau war komisch? Seine Art?«
»Es war nicht Kuhn, wie ich ihn kenne. Er wirkte bedrückt.«
»Bedrückt«, sagte Lavallier langsam. »War er nur komisch, oder hat er auch was Komisches gesagt?«
In Wagners Kopf wuchteten sich zwei lethargische Beamte aus ihren Stühlen und schlurften zu einem großen Tor. Unter Mühen stemmten sie es auf. Davor wartete Lavalliers Frage, um ins Großhirn zu gelangen.
Sie überlegte. Hatte Kuhn etwas Komisches gesagt?
Eine Ahnung dämmerte in ihr hoch.
Worüber hatte sie sich noch gewundert letzte Nacht? Über den Umstand seiner plötzlichen Verlagsreise? Auch. Aber da war noch mehr.
»Ich erinnere mich nicht genau«, sagte sie.
Lavallier nickte.
»Ich mache Ihnen beiden einen Vorschlag«, sagte er. »In wenigen Minuten findet drüben die außerplanmäßige Sitzung statt. Ich lasse Sie so lange allein. Sie können im Holiday Inn frühstücken, es ist nur wenige Schritte von hier hinter dem Verwaltungsgebäude. Ein paar Eier mit Speck täten Ihnen gut, wenn Sie mich fragen. Starker Kaffee. Vorher nimmt im Nebenzimmer eine freundliche Dame Ihre Personalien auf, da müssen Sie durch. Hinterlassen Sie mir die Nummer des Verlags, wir kriegen raus, ob die gestern wirklich mit Kuhn gesprochen haben. Entweder ich finde Sie beide später im Hotel oder wieder hier, okay? Lassen Sie sich Zeit. Denken Sie nach, während Sie frühstücken. Jedes Detail kann wichtig sein, auch wenn es Ihnen noch so unbedeutend vorkommt.« Er lächelte. »Den Spruch kennen
Sie mit Sicherheit schon aus dem Fernsehen.«
»Ein Bett wäre mir lieber«, stöhnte Wagner.
Dann fiel ihr ein, dass sie um halb fünf in der Redaktion des WDR erwartet wurde. Und anschließend bei RTL.
Auch das noch.
Andererseits, halb fünf war weit weg. Der WDR und RTL entglitten wieder in Vergessenheit.
»Eine Kleinigkeit noch«, sagte Lavallier im Hinausgehen. »Versuchen Sie Kuhn nicht weiter unter seiner Handynummer zu erreichen. Das machen wir ab jetzt. Alles klar?«
Wagner senkte zustimmend den Kopf.
O’Connor streichelte ihren Nacken. Er sagte ausnahmsweise nichts.
Im Allgemeinen schnitten Entführer ihren Opfern die Ohren oder einen kleinen Finger ab und schickten sie den Angehörigen per Einschreiben zu. Das Entfernen von Körperteilen schien immer noch das probateste Mittel zu sein, Menschen von der Notwendigkeit größerer Geldausgaben zu überzeugen. Auf diese Weise waren Entführte wie Paul Getty jr. zwar freigekommen, aber gewissermaßen nicht ganz vollständig.
Als Kuhn sah, wie die Frau auf ihn zukam, mit der Linken einen Stuhl umklammert, fürchtete er mehr als den Tod die Möglichkeit, sie könne ihm mit einer blitzschnellen Bewegung irgendetwas abhacken, herunterschneiden oder ausstechen. Er presste sich gegen die Wand, vor der er seit Stunden saß, und versuchte, Abstand zu gewinnen. Die Lächerlichkeit des Vorhabens brachte ihm nichts ein als einen plötzlichen Schmerz im Handgelenk, als die Kette der Handschellen sich straffte und der stählerne Ring in sein Fleisch schnitt. Er stöhnte auf und schüttelte heftig den Kopf.
Sie blieb vor ihm stehen und sah auf ihn herunter.
»Besonders mutig scheinst du nicht zu sein«, sagte sie.
Kuhn zuckte zusammen. Wieder ein Indiz dafür, dass es dem Ende zuging. In der Nacht noch hatte sie ihn gesiezt und mit einer gewissen Höflichkeit behandelt. Zwar hatten sie und der Slawe ihm Löcher in den Bauch gefragt, ihn aber weder misshandelt noch angeschrien. Nach dem Telefonat mit Kika hatten sie ihm das Handy wieder abgenommen und es ausgeschaltet. Das war alles.
Schließlich hatte der Slawe die Halle verlassen, woraufhin die Frau in einem angrenzenden Raum verschwunden war. Kuhn schätzte, dass sie dort arbeitete oder ruhte. Für die Dauer der nächsten Stunden hatte er nichts von ihr gehört oder gesehen. Natürlich konnte es ebenso gut sein, dass sie ihn beobachtete. Im fahlen Schein der Neonleuchten hatte Kuhns Blick die Halle erwandert und dicht unter der Decke etwas von der Größe einer Kamera ausgemacht. Bei genauem Hinsehen mutete es eher wie ein kurzes Fernrohr oder Teleobjektiv mit einer transparenten Glasplatte an, die unmittelbar vor der Linse befestigt war. Er hatte keinerlei Vorstellung davon, wozu das Ding diente, und wollte es auch nicht wissen. Zutiefst deprimiert war er in sitzende Position gerutscht und hatte versucht, seine Angst mit Schlaf zu betäuben.
Zu mehr als einem nervösen Schlummer, durchsetzt von alptraumhaften Bildern, hatte es nicht gereicht. Danach fühlte er einen dumpfen Kopfschmerz und leichte Übelkeit. Er wusste, dass die Übelkeit von der Angst herrührte. Er wusste wie immer eine ganze Menge, nur nicht, wie man die Zeit zurückdrehen konnte bis zu der Stunde, da er an der Bar des Maritim gesessen und mit sich gerungen hatte, ob er zu Paddy Clohessy fahren oder doch lieber ins Bett gehen sollte.
Die Frau stellte den Stuhl verkehrt herum vor Kuhn hin.
Dann nahm sie darauf Platz, verschränkte die Arme über der Rückenlehne und musterte den Lektor. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihre dunklen Augen von eigenartiger Schönheit waren.
»Wie es aussieht, hat sich deine Lage nicht gerade verbessert«, sagte sie leise.
Kuhn bemerkte, dass sie etwas in der Hand hielt. Einen Moment lang schnürte sich ihm die Kehle zu, dann sah er, dass es keine Pistole und auch kein Folterwerkzeug war, sondern ein sehr kleines und flaches Handy.
Langsam ließ er die Luft entweichen.
»Ich habe Ihnen alles gesagt.« Es klang, als habe er monatelang kein Wort gesprochen. Die Frau sah ihn unverwandt an.
»Deine Freunde haben vor wenigen Minuten die Polizeiwache des Flughafens betreten«, sagte sie.
Die Nachricht, frohlockte Kuhn. Sie haben die SMS erhalten!
Oder waren sie nur wegen Paddy dort?
»Du magst denken, es wäre gut für dich, wenn sie die Polizei einschalten«, fuhr sie fort. »Gib dich keinen Illusionen hin. Das Gegenteil ist der Fall. – Aber ich denke, du kannst mir vielleicht verraten, was sie da tun.«
»Ich?« Seine Stimme klang zu schrill. Verdammter Narr! Sie musste annehmen, dass er ihr etwas verschwiegen hatte. »Wieso denn ich?«
»Gestern Nacht haben sie es noch vorgezogen, sich gemeinsam in die Büsche zu schlagen.«
Sie darf nichts von der SMS erfahren, dachte er. Sag ihr nichts davon! Sie würde dich augenblicklich töten.
»Also, was ist?«, forschte die Frau. »Gar keine Idee?«
»Sie wollten ohnehin zu Clohessy«, sagte Kuhn hastig. Ja, das war gut. Es stimmte sogar weitestgehend. »Entweder noch in der Nacht oder heute früh. Sie dachten, wenn sie ihn zu Hause nicht antreffen, dann wahrscheinlich am Flughafen.«
»Ja, aber warum suchen sie ihn bei der Polizei?«
»Vielleicht…« Kuhn stockte. Dann sagte er: »O‘Connor war der Ansicht, Paddy könne in etwas Größeres verwickelt sein. Er wollte im Grunde gestern schon zur Polizei. Andererseits wollte er Paddy eine Chance geben, weil sie alte Freunde sind.«
Die Frau stützte das Kinn in die Hände.
»O’Connor meint also tatsächlich, Paddys Anwesenheit am Flughafen könnte etwas mit dem Gipfel zu tun haben?«
Kuhn nickte. Dasselbe hatte sie ihn mindestens schon dreimal gefragt. Sie und der Slawe, immer abwechselnd.
Er fühlte, wie sich die Übelkeit breiig in seiner Kehle zusammenzog.
»Bitte…«
»Ja?«
»Lassen Sie mich leben. Ich werde alles tun, um Ihnen zu helfen, aber töten Sie mich nicht.« Erneut fühlte er, wie Tränen seine Augen füllten. Mühsam kämpfte er sie zurück, aber es gelang ihm nicht, das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten. »Ich… ich möchte nicht sterben, bitte. Ich habe Ihnen doch nichts getan.«
Die Frau hatte den Blick nach innen gerichtet.
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