Bis auf Belfast. Da war es schrecklich.
Folgerichtig – da sich alle einig waren im neu erstarkten Selbstbewusstsein – fokussierten sich die Dubliner Kneipengespräche auf das einzige Enfant terrible und schwarze Schaf, den Norden. Nordirland wurde nicht länger totgeschwiegen, sondern ausgiebig besungen. Da ging es wenigstens richtig zur Sache, und man konnte sich aus der Entfernung trefflich engagieren. So sehr gefielen sich die Dubliner in ihren offen geäußerten Ansichten und Kampfrufen, dass sie vergaßen, auch danach zu handeln. Jeder war König seines Pubs, und das Pub war die Welt. Was dort gesagt wurde, fand Einzug in die Chroniken des Verfalls und der Erneuerung. Wer wollte handeln? So blieb der Protest ein Bühnenspektakel und Nordirland mit seiner IRA ein kulturelles Problem, ein Gespenst, das man thematisierte und romantisierte, in Theatern, Filmen und Tonstudios auslebte, ohne sich im christlichen Bemühen um einen geordneten Lebenswandel allzu sehr davon stören zu lassen.
Solche Umstände gebaren Schwätzer wie Clohessy und O’Connor. Mit dem Unterschied, dass Clohessy aus schäbigen Verhältnissen stammte, der Vater ein Säufer und Schläger, die Mutter depressiv, dass er Armut und Elend kennen gelernt und sich an die Uni gekämpft hatte, während O’Connors Vater ein angesehener Richter und immens reich war. In England wäre der Vater Thatcherist gewesen. In Dublin war er wenigstens erzkonservativ. Seine Prinzipientreue wurde nur von seiner Oberflächlichkeit übertroffen. Was immer Liam anstellte, welche Ausfälle und Eskapaden er sich auch leistete, wurde mit Geld und guten Beziehungen aus der Welt geschafft. Was immer Clohessy anstellte, mehrte seine Probleme.
Am Trinity fanden und verließen sich die ungleichen Freunde. Sie begegneten sich im Rausch der Provokation, sympathisierten, weil es modern war, offen mit der IRA und gaben sich als potentielle Bombenleger zu erkennen. Aber während O’Connor kein wirkliches Interesse an Politik zeigte, machte sich in Clohessy dumpfe Wut breit. O’Connor schien es, als verliere der Bruder im Wort die Contenance. Clohessy entpuppte sich als extremer Nationalist und schlug ernsthaft vor, das Studium abzubrechen und der IRA beizutreten. Hinter aller Demagogie erahnte O’Connor die Bereitschaft zu tatsächlicher Gewalt, die er selbst nie in Erwägung gezogen hatte, und fühlte sich zutiefst beunruhigt. Das Leben war ein Jux, aber Clohessy machte Ernst. Dass es von Wichtigkeit ist, ernst zu sein, kaufte O’Connor allerdings viel lieber dem von ihm verehrten Oscar Wilde ab als jedem anderen. In der Folgezeit begann er den Kontakt zu Clohessy zu lockern. Und eines Morgens hieß es, Clohessy sei wegen aufrührerischer Aktivitäten von der Uni geflogen.
O’Connor suchte ihn auf. Er hatte mit der Leitung des Trinity eine mögliche Wiederaufnahme ausgehandelt, wenn Clohessy sich öffentlich entschuldigte, aber Paddy erwies sich als verstockt. Er schien sich die IRA als stellvertretenden Racheengel für alle Demütigungen auserkoren zu haben, die ihm selbst zugefügt worden waren oder von denen er meinte, er habe sie erlitten. Es waren die Orientierungslosigkeit, der Mangel an Perspektive und die Rätselhaftigkeit eines Lebensweges, der abwärts statt aufwärts führte, die Clohessy in die Isolation getrieben hatten. O’Connor versuchte ein letztes Wilde’sches Plädoyer, dass alles doch nur Spaß sei, und erhielt bewaffnete Parolen zur Antwort. Verärgert wandte er sich endgültig ab und erfuhr kurz darauf, Clohessy sei untergetaucht.
Eine Weile huldigte Liam dem Müßiggang, war lustlos und langweilte sich. Schlussendlich fehlte ihm Paddy nun doch. Immerhin war er ein redegewaltiger und unterhaltsamer Saufkumpan gewesen. Das laue Gefühl beschlich ihn, er hätte sich vielleicht ein bisschen mehr um die verirrte Seele kümmern sollen. Andererseits wollte es ihm nicht gelingen, der Sache das nötige Interesse zu zollen. Interesse war ohnehin etwas, das O’Connor schnell verließ. Sich für nichts wirklich zu interessieren, war auch darum so angenehm, weil es das wirkliche Interesse anderer auf sich zog. Er scharte neue Saufkumpane um sich, feierte wildere Partys als je zuvor und vertiefte nebenbei sein politisches Wissen. Erfreut stellte er fest, dass seine früheren Tiraden hinsichtlich der Problematik des Nordens tatsächlich auch seinen Überzeugungen entsprachen, und nahm die großen Reden wieder auf. Er pflegte seinen schlechten Ruf und forderte im offiziellen Sprachrohr der Studentenschaft den gewaltsamen Rauswurf der Engländer aus Nordirland. Weil es ihm gerade einfiel, dehnte er die Forderung gleich auch auf Schottland aus. Dessen bewusst, dass es eigentlich nur die Langeweile und eine gewisse Lebensverdrossenheit waren, die ihn zu immer provokanteren Äußerungen veranlassten, warf er dennoch mit allem um sich, was irgendwie revolutionär und despektierlich klang. Oft genug war ihm dabei, als beobachte er sich selbst aus einer gewissen Distanz. In solchen Momenten sah er einen verwöhnten Playboy, den er nicht besonders mochte, aber die Anflüge von Selbstbetrachtung hielten selten lange vor. Zu Hause wurde derweil über nichts geredet, was Althergebrachtes und Bestehendes in Frage stellte. Konflikte waren verpönt. Sein Vater war nicht gerade ein Despot, seine Mutter nicht wirklich unterdrückt. Sie lebten eher zusammen wie die bürgerliche Ausgabe der Royal Family. In der polierten Oberfläche ihres Daseins spiegelte sich die Dubliner Gesellschaft wider, darunter vollzog sich buchstäblich nichts. Liam hatte immerhin gelernt, dass man es im Leben zu etwas bringen muss und das auch kann, wenn man fleißig seine Schuhe putzt, und dass, wer alles hat, keine kontroversen Überzeugungen und Ideale braucht. Und falls doch, dann allenfalls als Spleen, wie die Weigerung des Parlamentariers Tony Gregory, eine Krawatte zu tragen, oder die Eigenart Lord Henry Mountcharles’, seine exzentrischen politischen Ansichten mit dem Tragen kurioser Socken zu unterstreichen.
Je länger Liam studierte, desto mehr begriff er, worin sein Problem lag. Er suchte nach Überzeugungen wie jemand, der einen Kleiderschrank durchstöbert, weil er noch nicht weiß, was er anziehen soll, wohl ahnend, dass Ideale aus Not und Mangel und nicht aus Überfluss erwachsen. Ihm hingegen stand alles offen, und alles fiel ihm zu. Man bescheinigte ihm überragende Intelligenz und prophezeite ihm eine beispiellose Karriere. Was immer er tat und sagte, sein Elternhaus bog es zurecht. Seine Sauf- und Prügelexzesse, seine öffentlichen Schmähungen und Beleidigungen – sein Vater deckte ihn. Er war nicht länger ein privilegierter Rowdy – er war der König aller privilegierten Rowdies!
Ein einziges Mal, nach Erscheinen des Hetzartikels gegen die Engländer und der offenen Sympathiebekundung für die IRA, hatte man Liam mit einem Verweis vom Trinity gedroht. Seltsamerweise hatte es ihn mit Befriedigung und Stolz erfüllt, aber dann lenkte ein Telefonat seines Vaters alles wieder in die richtigen Bahnen, und fortan galt Liam als unantastbar. Er war zutiefst deprimiert. Es war, als renne er beständig mit aller Kraft in eine Wand aus Gummi. Er konnte machen, was er wollte, immer gab jemand freundlich nach.
Er verlor das Interesse am Norden mit seinem unentwirrbaren Interessenknäuel aus Religion und Macht. Ideale waren hier nicht zu finden. Nichts, wofür es sich lohnen würde, gewaltsam aus dem Garten Eden auszubrechen, in den das Schicksal ihn hineinbestimmt hatte. Genau das, fühlte Liam, hätte geschehen müssen, um sich endlich lebendig zu fühlen. Nur, dass es keinen wirklichen Grund gab, das Paradies zu verlassen, weil damit einzig eine Verschlechterung der Lebensumstände einhergegangen wäre und nichts sonst.
Und so, im selben Jahr, als Liam O’Connor ohne sonderliches Engagement summa cum laude promovierte, beschloss er – womit auch immer er in Zukunft unnötigerweise seinen Lebensunterhalt verdienen würde –, eines auf jeden Fall von Beruf zu werden:
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