Wagner machte eine Pause.
»Anfangs kommst du nicht wieder. Du musst dir ja beweisen, dass du die Stadt und dein altes Leben nicht brauchst. Dann regst du dich irgendwann wieder ab, der Liebeskummer verflüchtigt sich, und für Verbitterung bist du ohnehin zu jung. Alles wird wieder normal. Du hast Erfolg, neue Freunde und eine Menge Spaß, aber leider wohnst du in der falschen Stadt. Weil du das weißt, hast du auch keinen Freund, bringt ja eh nichts, wo du selbst nur bei dir zu Gast bist. Deine übrigen kleinen Unzufriedenheiten, zum Beispiel, dass du lang und dünn wie eine Pappel bist, melden sich zurück wie alte Bekannte zum Teetrinken, und fast freust du dich über die Vertrautheit deiner wiedergefundenen Komplexe. So lebst du nicht schlecht und suchst dir, ohne es richtig zu merken, einen neuen Radius zum Kreisen, einen größeren, der von der Alster an den Rhein reicht. Das läuft eine Weile wie geschmiert, bis du eines Morgens auf dem Bett eines Wahnsinnigen liegst, der dir was von anderen Wahnsinnigen erzählt und dich abfüllt, bis es dir zu den Ohren rausläuft, und du hörst dich dir selbst deine eigene kleine verfluchte Geschichte erzählen und denkst, wie gern du wieder hier leben würdest, und das ist alles. – Nein, ist es nicht!«
»Nicht?«
Sie wandte ihm den Blick zu. Ihre Mundwinkel drifteten auseinander. Das Grinsen war fällig.
»Nein, denn du musst schnell noch zugeben, dass du tatsächlich den geheimen Auftrag hattest, auf den Wahnsinnigen Acht zu geben, weil der Verlag die schlimmsten Befürchtungen an den Tag legte. Ich denke, damit sind alle Karten auf dem Tisch.«
O’Connor schmunzelte.
»Dein Verlag kann stolz auf dich sein. Du zeigst einen Einsatz, den sie ganz sicher nicht erwartet haben.«
Sie robbte ein Stück hoch, beugte sich über O’Connor und küsste ihn. Ihr Haar fiel rechts und links herab, und sie befanden sich im Innern einer Trauerweide.
»Das war nicht vorgesehen«, flüsterte sie.
»Ich weiß«, sagte er leise. »Mich hat auch niemand darauf vorbereitet, dass ich heute Nacht der Vorstellung erliegen könnte, mir Grundsätze anzuschaffen.«
»Du bluffst schon wieder«, murmelte sie.
»Überhaupt nicht. Du bist wunderschön. Das ist bemerkenswert auf einer gemessenen Länge von einem Meter siebenundachtzig.«
»Ich bin nicht schön. Ich bin dünn, groß, blass und eckig.«
Eine Zeit lang sangen nur die Vögel unter dem Fenster des Zimmers.
Als Wagner fast schon eingeschlafen war, sagte O’Connor:
»Nein, Kika. Eine Frau ist immer so schön wie das Kompliment, das man ihr macht. Du musst sie alle auf einmal bekommen haben.«
Dass der Mann seit Tagen nichts Richtiges gegessen hatte, sah man auf den ersten Blick. Dass sein Körper noch viel länger nicht mit Wasser und Seife in Berührung gekommen war, roch man erst, wenn man ihm nahe kam.
Er saß auf dem Beifahrersitz eines funkelnagelneuen Audi und rieb beständig die Hände an seinem alten Mantel. Das rotblonde Haar hing ihm wirr in die Stirn. Sein Gesicht war sonnenverbrannt und aufgedunsen, so dass die Augen zwischen den Lidern lagen wie in Polster gebettet. Die Nase war ins Bläuliche verfärbt, ebenso seine linke Braue, Letztere von einem Schlag, den er sich bei einem Streit mit einem albanischen Zuhälter eingefangen hatte. Obwohl er in jeder Beziehung eine jämmerliche Erscheinung bot, machte der Mann keinen sonderlich unglücklichen Eindruck. Er lachte, wobei er ein gelbes, lückenhaftes Gebiss entblößte, und nickte dem Fahrer vertraulich zu.
Seit einer halben Stunde hatte er zwei BigMacs und eine Riesenportion Fritten im Bauch.
»Nett von dir«, sagte er. Seine Stimme war nicht viel mehr als ein Kratzen. Unter den Punkern und Obdachlosen Kölns hatte sie ihm den Spitznamen »Computerstimme« eingetragen. Wie Computerstimme wirklich hieß, wusste inzwischen kaum noch jemand, und er selbst schien es nicht mehr wissen zu wollen. »Wirklich nett, Jungchen. Hat geschmeckt! Könnte glatt zur Gewohnheit werden, wenn du mich fragst.«
Der jüngere Mann lächelte.
»Kommt drauf an«, sagte er.
»Bah, du wirst zufrieden sein«, krächzte Computerstimme. »Bin schon mal fotografiert worden. Für eine Zeitung. Das war… ach nee, ich weiß nicht mehr, ein Tag ist wie der andere. Egal. Sie machen immer Reportagen über uns, feine Leute lesen so was gern beim Frühstück.« Er kicherte und zupfte am Jackenärmel des Fahrers. »Du bist auch ‘n feiner Bursche, wie? Edle Tapete und alles. Verdient man als Fotograf so viel Geld?«
»Halb so wild«, sagte der Fahrer, während der Wagen die Severinsbrücke überquerte. »Es gibt Fotografen wie Sand am Meer. Wenn meine Bilder nicht gut sind, kauft sie mir keiner ab. Und wenn sie gut sind, kann es mir immer noch passieren, dass sie irgendeinem Klugscheißer nicht gefallen. Dann geht’s mir dreckig.«
Der Penner knautschte seine Gesichtszüge zusammen, sah den Jüngeren an und schob die Unterlippe vor.
»So dreckig wie mir kann’s dir gar nicht gehen.«
»Nein. Da haben Sie wahrscheinlich Recht.«
Der Fahrer hatte ihn nicht gefragt, wie alt er war. Obdachlose mochten zu viel Fragerei nicht. Sie waren von Natur aus misstrauisch und feindselig. Mitteilsam wurden sie erst aus eigenem Antrieb, wenn der Funke übersprang und sie zu dem Schluss gelangten, dass der andere es ehrlich mit ihnen meinte. Es war ihnen nicht zu verdenken. Ihr einziges Kapital waren schlechte Erfahrungen, und die Zinsen waren Zurückhaltung und Vorsicht.
Der Fahrer hatte dem Mann etwas Geld gegeben und sich eine Weile einfach nur mit ihm unterhalten. Belangloses Zeug, Witzchen, Klatsch und Tratsch. Dann hatte er ihn zum Essen eingeladen. Erst beim zweiten BigMac, nachdem Computerstimme aufgetaut war, hatte er ihm den Vorschlag unterbreitet, sich für einen Bildband über die marode Seite Kölns fotografieren zu lassen, ein Dokument über die Welt der Glücklosen, die vor den Türen frieren und sterben. Computerstimme hatte eingewilligt, nachdem von zweihundert Mark die Rede gewesen war. Es war schon genug umsonst gewesen in seinem Leben. Wer sein Konterfei wollte, sollte wissen, was es wert war.
Dem Äußeren nach zu urteilen hätte er in Stalingrad dabeigewesen sein können, dachte der Fahrer. Wahrscheinlich war der Penner nicht mal fünfzig, aber er sah aus wie die fleischgewordene Summe mehrerer verpfuschter Existenzen.
»Du bist ein Dreck, wenn du keine Wohnung hast«, sagte Computerstimme, als sie die Straße zu dem kleinen Industriegebiet entlangfuhren. »Wenn du dir nichts zu fressen kaufen kannst, erst recht. Die Leute sagen, guck dir die Sau an, alles versoffen hat der Kerl, liegt da in seiner Kotze und pennt. Besser, wenn so einer abkratzt. Dann glotzen sie sich ertappt an und sagen, nee, nicht wegen uns, besser natürlich für das arme Schwein, was hat der schon vom Leben. Weil, draus gemacht hat er ja eh nichts, oder? Hätte ja können, wenn er gewollt hätte, arbeiten kann jeder. Nee, lass den mal sterben, dann isser weg, einer weniger.« Er kratzte sich die Bartstoppeln. »Jedes Tier ist mehr wert. Weißt du, dass ich mal’n Hamster hatte?«
»Nein. Haben Sie noch nicht erzählt.«
»Hatte ich aber. Weißt du auch, warum? Scheiß auf das Vieh, aber damit kannst du Geld verdienen! Ich hockte auf der Straße mit’m Pappkarton neben mir, da hatte ich ihn reingesetzt. Bisschen Gras dazu. Und ein Schild aus Pappe, wo draufstand: Bitte eine kleine Spende für Tierfutter.«
»Raffiniert.«
Computerstimme lachte wild und schlug sich auf die Knie. »Das war die beste Idee meines Lebens, Junge! Der Clou! Kommen gleich am ersten Tag zwei alte Frauen aus’m Cafe, voll gefressen mit Sahnetorte, und sehen mich da sitzen. Richtig angewidert waren die. So welche, die nie was geben, weißt du? Die meinen, der alte Drecksack hat das schon verdient, da zu sitzen und zu krepieren, weil, der liebe Gott ist gerecht. Wenn der das zulässt, ist das auch in Ordnung so. Aber dann sehen sie das Vieh. Und plötzlich fingert die eine in ihrem Portemonnaie rum, holt fünf Mark raus und schmeißt sie in den
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