Die Mächtigen mochten stürzen – die zweite Garde, derer sie sich bedienten, tauchte irgendwann wieder auf. Immer in Positionen, die einen maximalen Handlungsspielraum bei minimaler Gefährdung der eigenen Stellung ermöglichten. Sie waren die Schatten, die sich aussuchen konnten, wer sie warf, ob sie nun CIA oder KGB hießen. Die Schattenkrieger hatten alle Macht. Riskant wurde es für sie nur, wenn sie selbst dem Glamour des Rampenlichts verfielen.
Mirko dachte an Slobodan Milosevic, während das Kloster in der Ferne auftauchte. Auch der Diktator hatte sein sicheres Terrain verlassen, als er beschloss, aus dem Schatten des dienstbaren Opportunismus zu treten und seiner Eitelkeit nachzugeben. Er war wie alle seiner Art verblendet und damit angreifbar geworden. Solange er es vorgezogen hatte, im richtigen Moment die Ideologie zu wechseln und anderen das Regieren zu überlassen, hatte er überdauert, Entscheidungen gefällt und im Verborgenen die Weichen gestellt. Es war ihm jederzeit möglich gewesen, in ein anderes Lager überzulaufen, wo ein neuer starker Feldherr seiner Dienste bedurfte. Jetzt aber – nachdem er 1986 die Parteiführung in Serbien und ein Jahr später die Präsidentschaft übernommen hatte – stand er selbst an der Spitze. Nichts und niemand kam mehr nach ihm, er hatte sich keinen Unterschlupf gelassen. Er war sein eigenes und das Produkt anderer geworden, eine Fieberphantasie der nationalen Intelligenz Serbiens, ein Homunkulus mit der einzigen Aufgabe, ein für alle Mal die Wahrheit zu verkünden, die serbische Wahrheit, die wahrer ist als jede andere Wahrheit, fußend auf der Monstrosität historischer Ansprüche, aus denen er Recht und Rechtmäßigkeit ableitete, das Gesetz schlechthin.
Als Folge vermochte der Diktator die Gesetze nicht mehr auszulegen, die er gemacht hatte. Er war das Gesetz! Milosevic würde sein Schicksal ereilen, weil er an seiner eigenen Verbindlichkeit zugrunde ging. Im grellen Licht der weltpolitischen Bühne drohte ihm der Schurkentod, weil die Guten Kenntnis von ihm genommen hatten. Das war sein größtes Problem, und er hatte es zu keiner Zeit erkannt oder danach gehandelt. Jahre würde es dauern, in denen er ungeheuren Schaden anrichten und seine Feinde dutzendfach vernichtend schlagen konnte, aber nichts würde ihn schützen gegen den Jago oder Brutus mit dem nichts sagenden Gesicht, lächelnd, halb verdeckt vom winkenden Arm des großen Nationalisten, Verrat planend.
Viele waren wie der serbische Diktator, wie Kennedy und Nixon, wie Jelzin, Saddam Hussein, wie die Cäsaren. Gleich welcher Ideologie, entging ihnen ihre Mutation zur Handpuppe, in die andere schlüpften. Sie leisteten sich grandiose Schlachten, die keiner wirklich gewinnen konnte, also führten sie einen zweiten, verdeckten Krieg, in dem ein Mirko oder ein Carlos, ein Abu Nidal oder eine Jana aktiv wurden, ließen andere Hände ihr Schicksal in die Hand nehmen. Zu jeder Zeit waren sie ihrer selbst so sicher, dass sie keinen Zweifel an der Ausübung totaler Kontrolle hegten. Auf dem Scheitelpunkt ihrer Macht schob ihnen dann jemand den Dolch zwischen die Rippen, und die Inszenierung endete. Im Puppenspiel fiel der Vorhang. Die Figuren waren hinreichend demoliert, die Spieler zogen sich zurück und warteten auf ihren nächsten Einsatz. Die Welt der Puppen wandelte sich. Die der Spieler blieb gleich.
Mirko steuerte den Wagen auf die Böschung unterhalb des Klosters und stieg aus. Der Tag war diesig und kühl. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Der Alte erwartete ihn vor den Stufen, die zum Portal hinaufführten. Heute hatte er sich nicht der Mühe unterzogen, seine Sicherheitsleute im Hintergrund zu halten. Vielleicht wollte er Mirko mit seiner kleinen Demonstration beeindrucken. Mehrere Männer in Kampfanzügen waren auf dem Gelände verteilt. Sie hielten respektvoll Distanz. Mirko schätzte, dass sie zu einer der zahlreichen Milizen gehörten.
»Mein lieber Freund«, sagte der Alte herzlich. »Ihre Nachricht war ein duftender Korken! Nun lassen Sie mich den Wein trinken. Wie steht es mit unserem kleinen Unterfangen? Was sagt unsere geschätzte Freundin, wie sie die Sache angehen will?«
Mirko schickte einen Blick zu den Uniformierten.
»Hören diese Leute mit?«
»Kein Problem. Aber Sie haben natürlich Recht. Gehen wir ein Stück.«
Sie setzten sich in Bewegung. Vom Kloster führte ein Pfad bis zur Straße und setzte sich auf der anderen Seite fort. Die Ränder waren von niedrigem Buschwerk überwuchert. Wahrscheinlich endete der Weg nach wenigen hundert Metern in einem Feld, aber von hier sah es aus, als verliere er sich im milchigen Dunst der Berge weit hinten.
Drei der Männer folgten ihnen in einigem Abstand.
Nachdem sie ein paar Schritte schweigend nebeneinander hergegangen waren, sagte Mirko dem Alten, was Jana verlangte.
Sein Auftraggeber blieb stehen und starrte ihn an.
»Sie will was?«
»Sie haben richtig gehört.«
Der Alte schüttelte den Kopf und sah hinüber zum Kloster, als habe er die tröstende Realität dort zurückgelassen. »Wie soll das funktionieren? Hat Ihre Freundin den Verstand verloren? Das ist Unfug, Mirko. Fünfundzwanzig Millionen teurer Unfug!«
»Nein, ist es nicht«, erwiderte Mirko. »Um Sie zu beruhigen, ich war anfangs auch irritiert. Aber sie hat es mir erklärt. Es funktioniert.«
»Das kann ich kaum glauben!«
»Wenn Sie es ihr nicht glauben, glauben Sie es mir. Es klingt phantastischer, als es ist. Was einen so frappiert, sind die Dimensionen. Würde sich alles en miniature abspielen, wäre es die einfachste Sache von der Welt.«
»Ja, aber das ist ja nun mal nicht der Fall. Meine Güte, ich bin einiges gewohnt, aber… Gibt es keine Alternative?«
»Doch«, nickte Mirko. »Boden-Boden-Raketen. Vielleicht. Das Problem ist nur, dass wir gar nicht so weit kommen würden, eine Basis zu stationieren. Wir würden eine solche Waffe nicht ins Land schmuggeln können, und in Deutschland bekommen wir sie erst recht nicht.«
»Und wenn wir jetzt beginnen?«
»Auch dann nicht.«
Der alte Mann sah sinnend zu Boden. Dann ging er langsam weiter.
»Was würde passieren, wenn Jana ihren Plan ausführt?«, fragte er. »Ich meine, was wäre der Effekt?«
Die Bestürzung war aus seinen Zügen verschwunden, stattdessen begann sein Verstand, das Szenario offenbar in Bilder umzusetzen. Mirko spürte einen Anflug von Erleichterung. Die größte Hürde war genommen. Sie brauchten weniger die Zustimmung des Alten als vielmehr seine Hilfe. Aber dafür mussten sie ihn überzeugen.
Mirko erklärte ihm die Wirkungsweise der Waffe. Es brauchte nicht vieler Worte, und die blauen Augen des alten Mannes begannen zu leuchten.
»Ein verfluchter Aufwand, aber eine gute Show«, sagte er.
»Es ist das, was Sie wollten.«
»Sieht ganz so aus.« Der Alte zögerte. »Mein Gott, man lernt nie aus. Ich dachte immer, wir leben in Zeiten, da sich ein Mann mit einem Gewehr auf ein Dach legt und die Frage einzig darin besteht, das passende Dach zu finden.«
Mirko lächelte.
»Das ist Partisanenromantik, und das wissen Sie. Ein Mann und seine Waffe. Sind Sie sicher, dass Sie die Rede dem Richtigen halten?«
Der Alte lachte bellend und schlug Mirko auf die Schulter.
»Ach, Mirko! Verdammt, ich weiß selbst, dass es so nicht geht.
Andererseits werden Sie zugeben, dass die Ideen Ihrer Freundin gewöhnungsbedürftig sind.«
»Es sind die Ideen einer Frau«, sagte Mirko gleichmütig. »Männer denken immer gleich an Kanonen. Frauen haben weitaus mehr Phantasie. Wussten Sie, dass es bändeweise Abhandlungen über die phallische Bedeutung von Handfeuerwaffen und Gewehren gibt? Was glauben Sie, warum Männer so gern ballern?«
»Weil sie einen Schwanz haben, Mirko«, lachte der Alte. Er schien sich königlich zu amüsieren. »Weil sie ohnehin schon wissen, wie man ballert. Gott sieht es gern, wenn ein Mann eine Waffe trägt.«
Читать дальше