»Können wir jetzt gehen?«, bat Kuhn. »Sie werden die Signierstunde verpassen.«
O’Connor sah ihn an.
»Das war Paddy Clohessy«, sagte er.
»Ja, fein. Ich weiß nicht, wer das ist. Ich gebe nur zu bedenken…«
»Er ist in dem Aufzug verschwunden. Nicht zu fassen. Wir müssen hochfahren. Wo fahren die Aufzüge denn hier überall hin?«
»Nach oben«, seufzte Kuhn. »Nach unten. Wohin Sie wollen.«
O’Connor nickte befriedigt.
»Nach oben!«
Sie fügten sich in ihr Schicksal und fuhren mit dem fraglichen Lift in den ersten Stock. O’Connor streunte eine Weile zwischen den Countern herum und kam kopfschüttelnd zurück.
»Was ist unten?«, fragte er.
»Nichts. Die Straße.« Kuhn bleckte die Zähne. »Möchten Sie die Straße sehen? Man kommt von da ganz prima zu den Parkplätzen. Wirklich ganz wunderbar.«
O’Connor wirkte unentschlossen.
»Entweder«, sagte Wagner ruhig, »kommen Sie jetzt mit, oder Sie dürfen mich nicht mehr Gaby nennen. Was ist Ihnen lieber?«
Schließlich gab er auf. Sie schafften es ohne weitere Zwischenfälle zu den Taxis. Kuhn verfrachtete den Physiker auf den Vordersitz eines BMW und stieg selbst hinten ein. Wagner beugte sich zum Seitenfenster hinunter und gönnte sich einen letzten Blick in O’Connors Augen.
Er sah zurück. Ebenso gut hätte er ihr eine Einladung schicken können, sich unbekleidet in seinem Badezimmer einzufinden.
Die Scheibe summte herunter.
»Was heißt denn nun Kika?«, fragte er.
»Kirsten Katharina. Mir hat weder das eine noch das andere gefallen. Meinen Eltern offenbar auch nicht. Ich heiße Kika, seit ich denken kann.«
O’Connor versuchte so etwas wie eine Verbeugung. Sitzend und angeschnallt sah es ziemlich komisch aus.
»Kika«, sagte er. »Ki-Ka!«
»Bis später.« Sie klopfte zum Abschied gegen die Tür und wartete, bis der Wagen losgefahren war.
Kuhn hatte nicht einmal gelogen, als er sagte, O’Connor sei der netteste Mensch der Welt.
Er hat lediglich vergessen zu erwähnen, wie nett.
1998. 09. DEZEMBER. KOELN
Die Frau, die am frühen Abend die Passkontrolle des Köln-Bonn Airport durchschritt, sah der Unternehmerin Laura Firidolfi ebenso wenig ähnlich wie der Person, die Mirko in Triora getroffen hatte. Der Beamte warf einen flüchtigen Blick auf ihre Dokumente und nickte, den Blick schon auf den nächsten Ankömmling gerichtet. Die
Maschine aus Turin war nicht voll gewesen. Die Abfertigung erfolgte reibungslos und ohne besondere Vorkommnisse, sah man davon ab, dass eine der gefährlichsten Frauen der Welt Kölner Boden betrat. Hätte der Beamte die Höflichkeit der Briten besessen, hätte er sich möglicherweise ein Lächeln und ein »Danke, Signora Baldi« abgerungen, aber hier war Deutschland.
Jana rückte die getönte Brille den Nasenrücken hinauf und beobachtete sich im Näherkommen in der Scheibe eines Schaukastens, als sie mit den anderen Passagieren zu den Gepäckbändern schritt. Die Frau, die ihr entgegenkam, hatte graues, straff nach hinten gebürstetes Haar, trug einen etwas aus der Mode gekommenen Mantel und wollene Handschuhe. Die Umhängetasche war aus Leder und sicher nicht billig gewesen, mittlerweile aber ebenso abgewetzt wie ihre Besitzerin. In wenigen Minuten würde sie ihren Koffer hinter sich herzerren, ohne dass sich ein aufmerksamer Mann fände, um ihr die Last abzunehmen. In ihrer Erscheinung gehörte die frühzeitig ergraute Frau mit dem arthritischen Gang zu jener Kategorie von Menschen, die sich buchstäblich durch nichts kenntlich machen, weder durch gutes noch durch schlechtes Aussehen, und die man aussortiert, bevor man sie richtig wahrgenommen hat.
Sie wartete in der Halle der Gepäckausgabe und sah mit leblosem Blick die Werbung auf den Transportbändern an. Mittlerweile hatten es findige Konstrukteure geschafft, die Kunststoffschuppen der Bänder für Displays zu nutzen, die der ständigen Beanspruchung durch die drauf gepfefferten Koffer und Taschen standhielten. Gepäckstücke näherten sich nun nicht länger auf neutralem Schwarz, sondern auf Waschmitteln, Fernsehzeitschriften, glücklichen Hausfrauen, Mineralwässern oder Hundefutter.
Der Koffer geriet in Sichtweite. Jana ließ die Grauhaarige ihre rechte Hand ausstrecken und das schwere, unförmige Teil ergreifen. Sie zog den Koffer hinter sich her, nahm draußen ein Taxi und ließ sich zu der kleinen, preiswerten Pension hinter dem Bahnhof bringen, wo sie für die folgende Nacht ein Zimmer reserviert hatte. Dem Rheinpanorama schenkte sie im Vorbeifahren ebenso wenig Beachtung wie den erleuchteten Domtürmen und der Kirche Groß St. Martin. Der Taxifahrer wollte wissen, ob sie das erste Mal in Köln sei. Sie antwortete in gebrochenem Deutsch, sie besuche Verwandte. Danach fragte der Taxifahrer nichts mehr, weil eine verblühte und radebrechende Mittvierzigerin, die in Köln Verwandte besucht, nichts über Fußball und lokale Politik weiß und einem Taxifahrer darum nichts Bemerkenswertes zu erzählen hat.
Die Pension erwies sich als einfach, aber gemütlich. Diesmal erbot sich der Besitzer, ihr den Koffer auf das schmale Zimmer im zweiten Stockwerk zu tragen, und sie ließ ihn gewähren, kramte nach einem Zweimarkstück und drückte ihm die Münze in die Hand. Der Mann teilte ihr unbeeindruckt mit, Frühstück gäbe es bis 9.30 Uhr. Sie nickte, lächelte dankbar und wartete, bis seine Schritte auf der Treppe verklungen waren.
Dann starrte sie eine Weile reglos aus dem Fenster und machte Pläne.
Gegen acht verließ sie das Hotel, nachdem sie sich einen nicht so teuren Italiener hatte empfehlen lassen, der in unmittelbarer Domnähe lag. Dort aß sie Penne all’arrabiata und trank zwei Gläser Rotwein.
Anschließend schulterte sie ihre Umhängetasche und ging durch die mittlerweile geschlossenen Buden des Weihnachtsmarktes auf der Domplatte hinunter zum Rhein. Eine Zeit lang ließ sie ihren Blick schweifen und den späten Schiffen folgen, machte sich im Geiste Notizen und fügte lose Gedankengänge zusammen. Im Päffgen, dem traditionsreichen Brauhaus in der Altstadt, probierte sie Kölsch, fand den Geschmack angenehm und machte sich um kurz nach zehn wieder auf den Rückweg in die Pension, wo sie ihr Zimmer aufsuchte, das Licht löschte und sofort einschlief.
Das Frühstück nahm sie um 9.00 Uhr ein, bezahlte ihre Rechnung und bat darum, den Koffer noch eine Stunde im Flur stehen lassen zu dürfen. Dann fragte sie nach dem nächsten großen Kaufhaus. Der Pensionswirt versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, und schickte sie, nachdem die grauhaarige Frau sich mangels erforderlicher Deutschkenntnisse als unfähig dazu erwiesen hatte, zum Kaufhof. Jana bedankte sich, ließ sich vom Menschenstrom auf der Hohe Straße mittreiben und betrat das Kaufhaus wenige Minuten später. Nach kurzer Orientierung fand sie die gesuchte Abteilung und erstand einen eleganten Koffer von MCM und eine passende Handtasche. Sie bezahlte bar, verstaute die Handtasche in dem Koffer und zog diesen hinter sich her bis zum Bahnhof, wo sie ihn in einem Schließfach deponierte und zurück zur Pension ging, um ihren eigenen Koffer zu holen. Man rief ihr dort ein Taxi, mit dem sie sich zum Bahnhof fahren ließ, den neuen Koffer dem Schließfach wieder entnahm und mit beiden Gepäckstücken in der öffentlichen Toilette verschwand.
Dort suchte sie eine Kabine auf, befand den winzigen Raum nach einem schnellen Blick für tauglich und schloss hinter sich ab.
Was nun geschah, erfolgte mit dem messerscharfen Timing vollendeter Professionalität. Im Nu hatte Jana den schäbigen Koffer entleert, einen Teil des Inhalts auf den geschlossenen Toilettendeckel gelegt und den Rest vor sich auf den Boden gestapelt. Es war alles andere als einfach, in den beengten Verhältnissen einer öffentlichen Toilette Koffer größeren Formats umzupacken, aber durchaus machbar, wenn man in so etwas Übung hatte. Jana brauchte dafür keine zwei Minuten. Kleidung und Accessoires wechselten den Aufbewahrungsort, das meiste verschwand in dem neuen Koffer, verschiedenes in der neuen Handtasche. Sie legte die unscheinbaren Kleider, die sie am Leibe trug, bis auf BH und Slip ab, zog die graue
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