Sie verließen die Lounge und durchquerten den ersten Stock des Flughafens. Köln-Bonn war eine Baustelle. An der Nordostflanke entstand eine neue Welt aus Stahl und Glas. Zu Beginn des neuen Jahrtausends würden Reisende in einem achtzehn Meter unter der Erde angelegten Bahnhof per ICE eintreffen und nach weniger als einhundert Schritten den Check-in passiert haben, um von luxuriösen Sesseln auf das Rollfeld zu blicken. Das Projekt folgte den Erfordernissen. Von der Gemütlichkeit alter Tage war nicht mehr viel zu spüren. Die Passagiere bevölkerten das viel zu kleine alte Terminal wie einen Ameisenbau. Noch war der neue Super-Airport nicht mehr als ein hochtechnisiertes Tohuwabohu, dem seit Anfang des Monats die weltpolitische Elite beinahe täglich die Ehre erwies.
Sie nahmen die Rolltreppe nach unten. O’Connor hatte seit Verlassen der Lounge nichts mehr gesagt.
»Wie war denn der Flug?«, fragte Kuhn endlich und drehte sich um, weil Wagner und der Doktor eine Stufe über ihm standen, während sie nach unten glitten. O’Connor hob die Brauen. Er streckte waagerecht seine linke Hand aus, spreizte Daumen und Zeigefinger ab und begann, sie hin- und her zu bewegen, als fliege sie Kurven.
»Bssssssssss«, sagte er.
»Ah.« Kuhn nickte. »Mhm.«
»Sagen Sie mal, Doktor«, fragte Wagner maliziös, »haben Sie sich eigentlich gut amüsiert in Hamburg? Nachtleben und so?«
Kuhns Augen weiteten sich vor Bestürzung.
»Ich glaube kaum, dass Liam uns darüber Rechenschaft schuldig ist, Kika«, zischte er. »Die ständige Fliegerei ist ausgesprochen anstrengend, wer ist danach schon wirklich frisch! Ich hab zum Beispiel Flugangst. Ich trinke ganz gern einen, wenn der Vogel hochgeht. Ist daran irgendwas auszusetzen?«
»Kika?«, echote O’Connor.
Wagner lächelte. »Mein Vorname.«
»Sie ist…«, begann Kuhn.
»Warum heißen Sie Kika, du lieber Himmel?«, rief O’Connor mit todernster Miene. »In Deutschland heißen die Frauen Heidi oder Gaby. Sie heißen Gaby. Merken Sie sich das.«
»Gehen«, sagte Wagner. »Jetzt.«
O’Connor warf die Stirn in Falten. Im nächsten Moment stolperte er, fing sich und taumelte über das Ende der Rolltreppe hinaus zwischen die Leute, die das Erdgeschoss bevölkerten. Er fluchte auf Gälisch. Kuhn sprang hinzu und ergriff ihn am Arm. O’Connor straffte sich, schüttelte den Lektor mit ärgerlichem Grunzen ab und drehte sich nach allen Seiten um, bis er Wagner erblickte.
»Sie hätten mir ruhig sagen können, dass wir in einen anderen Quadranten kommen«, knurrte er. »Pfui, Uhura! Kirk an Brücke, beamen Sie das Weibsstück in die nächste Singularität.«
Wagner sah zu Kuhn herüber, der mit gespreizten Fingern und hochgezogenen Schultern Hilflosigkeit bekundete.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Draußen ist alles voller Klingonen. Sie wollen mich doch nicht im Ernst da rausschicken.«
»Doch«, erwiderte O’Connor und schürzte die Lippen. »Aber erst fahren wir ins Hotel.«
»Sehr gern.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung. Wagner steuerte die gläsernen Flügeltüren an, die nach draußen zu den Taxis führten. Es war geplant, dass Kuhn mit O’Connor eine Limousine nahm und einen Abstecher über den Neumarkt zu einer der dortigen großen Buchhandlungen machte, wo O’Connor einhundert Bücher signieren sollte. Wagner wünschte, sie hätten die Bitte der Buchhandlung abschlägig beschieden, aber es war nicht mehr zu ändern. Sie selbst würde mit dem Golf ins Maritim fahren, wo sie O’Connor einquartiert hatten, dort sein Zimmer inspizieren und dem weiteren Verlauf des Tages entgegensehen. Das konnte heißen, mit O’Connor wie geplant den Dom zu besichtigen und möglicherweise zu ersteigen, was nicht sonderlich originell, aber für ausländische Besucher unabdingbar war. Es konnte ebenfalls heißen, den Nachmittag freizunehmen. O’Connor in seinem Zustand den Dom hinaufzuverfügen, gehörte zu den Dingen des Lebens, deren Wahrscheinlichkeit gegen null strebte. Sie konnten froh sein, wenn er es pünktlich um 19.00 Uhr ins Physikalische Institut der Kölner Universität schaffte. Zwar war der eigentliche Zweck der O’Connor’schen Tournee, sein neues Buch vorzustellen, aber das Institut hatte die Gelegenheit ergriffen, ihn zu einem Fachvortrag einzuladen. Immerhin war O’Connor soeben für den Nobelpreis vorgeschlagen worden, weil er das Licht gebremst hatte. Was auch immer das im Klartext hieß.
Sie hoffte für den Taxifahrer, der die Ehre mit O’Connor haben würde, dass sein Gast nicht auf die Idee kam, Warp-Geschwindigkeit zu befehlen. Falls doch, musste Kuhn eben eine Weile zusehen, wie er allein mit ihm fertig wurde.
Unterdessen hatte O’Connor offenbar Gefallen am Vokabular von Star Trek gefunden. Er ließ seinen Blick schweifen und zeigte auf eine Gruppe Japaner.
»Vulkanier«, sagte er.
Wagner lachte leise und ging weiter. Er hielt sie am Arm fest. Etwas, das sie normalerweise hasste. Aber sein Griff hatte nichts Forderndes.
»Bleiben Sie doch mal stehen, Kaki… Kika. Pardon. Gaby.« O’Connor senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Der Flughafen ist unterwandert. Extraterrestrische Intelligenzen. Ich schlage vor, wir türmen.«
»In der Tat.« Wagner blickte einmal in die Runde. »Wir müssen es der Sternenflotte melden.«
»Unbedingt«, rief O’Connor und strahlte.
»Aber erst fahren wir ins Hotel, ja?«
Er schien nachzudenken.
»Wieso?«, sagte er gedehnt. »Wollten wir nicht irgendwo was trinken? Ich hätte wirklich gern was zu trinken, Gaby. Meine Kehle ist trocken wie ein Wurmloch. Wollen Sie, dass ich verdurste?«
»Im Hotel gibt es jede Menge zu trinken«, sagte Kuhn. »Wir trinken was im Hotel.«
O’Connor griff nach seiner Nasenspitze und ließ sie wieder los.
»Wer hat denn gesagt, dass wir ins Hotel fahren?«
»Sie.«
Die lapidare Antwort schien Wunder zu wirken. O’Connor setzte sich wortlos wieder in Bewegung. Wagner kam sich vor wie in einer Springprozession. Einen Schritt vor, zwei zurück. Sie fragte sich, wie betrunken der Physiker tatsächlich war. Irgendetwas sagte ihr, die Hälfte sei bloßes Theater. Mindestens die Hälfte.
Sie fühlte ihre Geduld schwinden und beschleunigte ihr Tempo. Die Flügeltüren glitten auseinander.
»Paddy!«, schrie O’Connor unvermittelt.
Wagner blieb stehen, holte tief Luft und fuhr herum. Lächeln, dachte sie. Freundlich sein. Denk an deinen Auftrag, er soll glauben, du bist seine Pressetante, nicht sein Wachhund. Pressetanten sind einfühlsam und lieb und endlos belastbar.
Sie konnte an Kuhns Miene sehen, dass er sich ernsthaft Sorgen machte. Plötzlich tat er ihr leid. Später würde ihn keiner danach fragen, wie schwer er es mit O’Connor gehabt hatte.
Sie im Übrigen auch nicht.
»Wir müssen dann mal«, sagte sie sanft. »Wirklich, Dr. O’Connor. In der Buchhandlung warten alle auf Sie, und .«
O’Connor hörte nicht zu. Er starrte in eine andere Richtung und begann dann, von ihnen fortzulaufen, zurück in Richtung Rolltreppe.
»Paddy Clohessy! Patrick!«
»Ich halt’s nicht aus.« Kuhn kniff die Lippen zusammen. »Dieses gottverfluchte Arschloch wird wieder alles kaputtmachen.« Sein rechtes Bein zuckte. Dann ging er dem davoneilenden Doktor mit vor Wut steifen Schritten nach. Wagner folgte ihm. Sie wusste, was sich in Kuhns Innerem abspielte. Er sah den Termin im Physikalischen Institut platzen. Es würde den üblichen Eklat nach sich ziehen. Memoranden würden geschrieben werden. Er würde pausenlos telefonieren und Entschuldigungen stammeln müssen. Sie würden ihn lynchen, häuten und vierteilen, erst in Köln, dann in Hamburg.
»Dr. O’Connor!«
O’Connor war stehen geblieben. Er wirkte plötzlich weit weniger betrunken als zuvor. Sein Finger wies in die Richtung, in der die Aufzüge lagen.
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