»Wann ist der Vortrag?«
»Um sieben. Es wäre hilfreich, wenn Sie ein paar Minuten vorher eintreffen.«
»Du lieber Himmel«, stöhnte O’Connor und ließ sich der Länge nach auf das Bett fallen. »Pünktlichkeit ist etwas Schäbiges. Albern und gewöhnlich. Sie stiehlt einem die Zeit, hat Oscar Wilde gesagt, und er hatte in jeder Beziehung Recht. Die Großzügigkeit der Autisten. Jeder Idiot kann pünktlich sein. Wecken Sie mich gegen sieben, dann sehen wir weiter.«
»Halb – sieben«, sagte Wagner mit Nachdruck.
»Na schön.« O’Connor deutete auf die Rose. »Ist das nicht seltsam? Kluge Frauen sind oft von bemerkenswerter Hässlichkeit. Sie nicht, das ist noch viel bemerkenswerter. Nehmen Sie die mit, sie kommt von Herzen.«
»Danke«, sagte Wagner im Hinausgehen. »Aber ich pflege mich nach Komplimenten nicht zu bücken. Dafür bin ich zu groß.«
Sie verließ das Maritim, ging zu ihrem Wagen und sammelte sich einen Moment. Wieder drängte das Etwas in ihr hoch. Sie ließ es passieren, und zu ihrer Verblüffung entpuppte es sich als Gelächter.
Was sie bis jetzt erlebt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was O’Connor möglicherweise noch an Überraschungen bereithielt. Immerhin hatte er in Hamburg den Großteil seiner Termine entweder nicht wahrgenommen oder war verspätet erschienen. Schlimm genug, aber immer noch harmlos gegen die Schlägereien, die er sich in unregelmäßigen Abständen lieferte. So wie im Vorjahr in Bremen. Angeblich – und diese Version unterstützte der Verlag ebenso wie die damals ermittelnde Polizei – hatte ein Geschäftsmann in der Szenebar, die O’Connor gegen ein Uhr morgens betreten hatte, ihn aufs übelste beleidigt und schließlich attackiert. Wer wem zuerst eine reingehauen hatte, ließ sich hinterher nicht mehr mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, aber der Geschäftsmann musste mit gebrochener Nase verarztet werden, während O’Connor lediglich über Schmerzen in seinen Fingerknöcheln klagte. Das Objekt des Streits, hieß es, sei der einzige freie Barhocker gewesen, den der eine wie der andere zur gleichen Zeit erspäht und angesteuert hatte. Allen Beteiligten war die Sache furchtbar peinlich, bis auf O’Connor selbst, der sich in dem Schlamassel offenbar gut amüsierte. Wie auch nicht? Jedes Mal, wenn er sich schlug, schien ein höherenorts getroffenes Agreement in Kraft zu treten, das ihn von jeglicher Schuld freisprach und gnädig übersah, dass der Physiker in mindestens der Hälfte aller Fälle den ersten Treffer gelandet hatte.
Wie auch immer.
Sie startete den Golf, legte einen Gang ein und ließ den Wagen am alten Messegelände vorbeirollen. Ihr blieb ausreichend Zeit, ein paar Einkäufe zu erledigen und ihre Eltern zu besuchen, um ihr Gepäck dort loszuwerden. In den nächsten Tagen würde sie dort schlafen.
Sollte Kuhn sich um O’Connor kümmern, falls der Physiker nicht wie versprochen ins Koma fiel.
1998.13. DEZEMBER. PIEMONT. LA MORRA
Jana saß über Bergen von Unterlagen und verfluchte den Verfall der guten Sitten im Geschäft des Tötens.
So merkwürdig es klingen mochte – der Terror hatte seine Unschuld eingebüßt. Lange Zeit waren die Gruppierungen bemüht gewesen, die Waage zwischen akzeptabler Gewalt und Gewaltfreiheit zu halten. Man legte Wert auf die Feststellung, nur ausgemachte Lumpen zu bekämpfen. Das Hineinziehen Unschuldiger sei unethisch. Gewalt habe sich gegen den Staat zu richten, nicht gegen die Bürger, für die man das ganze unerfreuliche Geschäft ja letzten Endes auf sich nehme.
Das war natürlich in die Tasche gelogen. Wen man symbolisch um die Ecke brachte, der war trotzdem tot. Dennoch war es eben diese Schwammigkeit zwischen Eskalation und Ethik, die dem Terrorismus mitunter Sympathien auf breiter Ebene eintrug. In letzter Konsequenz ging es darum, Anhänger zu gewinnen, die keine Terroristen waren. Man erzwang die Bereitschaft zuzuhören, um sie dann sinnvoll zu nutzen, Nachdenklichkeit und Sympathie zu erzeugen und seine Lobby zu vergrößern. Organisationen wie PLO, IRA und ETA wussten zeitweise sehr genau, wie weit sie gehen konnten, um mit dem Märchen vom Symbol noch durchzukommen und einmal gewonnene Anhänger nicht wieder zu verschrecken. Ob die Öffentlichkeit nun wollte oder nicht, sie begann, sich mit den Problemen Nordirlands, der Basken und der Palästinenser zu beschäftigen und Verständnis dafür zu entwickeln. Man konnte dem Terrorismus vorwerfen, er sei menschenverachtend und brutal, aber im Resultat seiner Bemühungen hatte er sich hin und wieder legitimiert. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Jassir Arafat war dafür das beste Beispiel.
Dann, 1995, kam der Schock. Die Freisetzung des tödlichen Nervengases Sarin in der Untergrundbahn von Tokio durch die Aum-Sekte setzte über Nacht alle Statuten der Terrorismusforschung außer Kraft. Offenbar gab es Gruppierungen, die aus unerfindlichen Gründen wahllos Massen von Menschen töteten, je mehr, desto besser. Hatten die meisten Terroristen bis dahin eine Abneigung gegen Massenvernichtungswaffen gezeigt und beinahe konservativ mit Pistole und Nagelbombe operiert, wurde nun der Exodus der Menschheit propagiert, inspiriert von einem mystischen, fast transzendentalen, göttlich inspirierten Gebot.
Wie es aussah, war der internationale Terrorismus in eine Phase erhöhter Gewalttätigkeit und gesteigerten Blutvergießens eingetreten, die auf diffusen religiösen und rassistischen Maximen gründete. Die Frage, was diese Organisationen überhaupt wollten, wurde nur noch übertroffen von der Ratlosigkeit hinsichtlich ihrer Mitglieder. Das Schlimmste schien jedoch zu sein, dass den Massenmördern offenbar jede Form von High-Tech und gewaltige Summen Geldes zur Verfügung standen und dass sie sich professioneller Killer bedienten, die ebenso wenig eine moralische Grenze zogen wie ihre Auftraggeber.
Die Welt rieb sich die Augen und verfiel in hektische Aktivität. Als hätte man der Probleme nicht genug, dämmerte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch noch der Schwarzmarkt für Atomwaffen herauf. Internationale Krisenstäbe tagten. Ein Abkommen zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit jagte das nächste. Der Schrecken vor dem Schrecken setzte ein globales Planspiel in Gang. Was kam als Nächstes? Chemischer Regen? Nukleargewitter? Kaum einer, der nicht mit sentimentaler Wehmut an die guten alten Flugzeugentführungen und politischen Morde zurückdachte, als Terroristen eigentlich noch nette Menschen waren, vielleicht mit einem etwas übersteigerten Empfinden für Symbolik. Die Zukunft lag im Dunkel. Alles konnte passieren. Nichts war abwegig genug, um nicht gedacht zu werden. Nichts, was nicht im Bereich des Möglichen lag.
Nichts, wogegen man sich nicht zu wappnen suchte.
Nur so war es zu verstehen, dass Jana am Abend des 13. Dezember 1998 bei einer Flasche Nebbiolo d’Alba Überlegungen anstellte, die weit über das gewohnte Instrumentarium des traditionellen Terrorismus hinausgingen. Ohne die Signale, die vom Wahnsinn der Sekte Aum Shinrikyo ausgegangen waren, hätte sie sich nicht mit einem Sicherheitsdenken herumschlagen müssen, das kaum noch Raum für bewährte Waffensysteme ließ und jeden Erfolg in den Bereich der Utopie rückte.
Wer zu dieser Zeit an dem Haus in den piemontesischen Bergen vorbeifuhr, wäre nie auf die Idee gekommen, was die angesehene Unternehmerin Laura Firidolfi dort gerade ausbrütete. Es lag ruhig und friedlich da. Aus dem großen Arbeitszimmer drang das Licht der Schreibtischlampe, die Janas Gedanken einsam beleuchtete. Über den
Berg von Kladden, Dokumentationen und Fachbüchern hinweg konnte sie auf die Lichter von La Morra schauen, dessen Silhouette den Hügelkamm zackte. Hin und wieder tauchten die Finger von Scheinwerfern in der Dunkelheit auf, verklangen Motorengeräusche. Die Kälte trieb Nebel in die Weinstöcke. Ein Ort für Geistergeschichten war das, nicht für schweißtreibenden Terror.
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