Wagner stellte sich vor, eine sternenklare Nacht dort zu verbringen. Man vergaß allzu oft, dass viele Wissenschaftler im Grunde ihres Herzens Romantiker waren. Sie dachte, dass man sich dort oben unsagbar klein vorkommen musste, wie unter dem Mikroskop, und vielleicht war es ja so. Vielleicht wurden die Menschen mit ihren Gerätschaften, wie tief sie auch in die Welt des Allerkleinsten vordringen mochten, selbst gemessen – intelligente Kulturen in kleinen Glasschalen, angesetzt in einem unvorstellbaren Laboratorium eines noch unvorstellbareren Instituts von metakosmischen Ausmaßen, das Universen entstehen und vergehen ließ.
Die Tür zu einem der angrenzenden Gänge öffnete sich, und ein untersetzter Mann mit Vollbart und üppigem Haarwuchs kam auf sie zu.
»Dr. Schieder?«, fragte sie.
»Schön, dass Sie da sind.« Der Mann drückte ihr die Hand. »Kommen Sie, wir gehen in mein Büro. Haben Sie O’Connor schon mitgebracht?«
»Noch nicht«, sagte Wagner. »Aber wir haben ihn… na ja, ziemlich wohlbehalten in Empfang genommen. Er dürfte in einer halben Stunde hier sein, zusammen mit Franz Maria Kuhn.«
»Das ist der Lektor, richtig?«
»Ja, richtig.«
Sie gingen an verschlossenen Türen und kahlen Wänden vorbei, bis Schieder sie in einen Raum führte, der anmutete wie eine Mischung aus Studierzimmer, Archiv und Laboratorium nach dem Einschlag einer Neutronenbombe. Tische und Tischartiges waren bis unter die nicht eben niedrige Decke voll gepackt mit Bergen von Ordnern, Heftern, Zeitschriften und allem möglichen Papier. Etwas hilflos sah sich Wagner nach einer Sitzgelegenheit um. Schieder bemerkte ihren suchenden Blick und zauberte hinter einer Pyramide aufgestapelter Videobänder einen Resopalstuhl hervor.
»Setzen Sie sich. Wir haben den großen Hörsaal vorbereitet. Ich würde Ihnen gern was zu trinken anbieten, aber alle verfügbaren Kaffeemaschinen sind im Einsatz oder kaputt. Unsere hier hat gestern ihren letzten Schnaufer getan, und keiner weiß, wie man sie wieder in Gang setzen kann. Dafür können wir Atome beobachten.«
»Woran arbeiten Sie?«, fragte Wagner neugierig. »Wenn ich fragen darf.«
»Sie dürfen, ist ja kein Geheimnis. An allem Möglichen. Wir bekommen Aufträge aus der Industrie, darum können wir uns auch vergleichsweise gut über Wasser halten. Zur Zeit verfeinern wir
Systeme zur Bearbeitung von Materialien wie Silizium. Die Radioastronomie ist das zweite große Feld.«
»Ich habe das Observatorium auf der Zugspitze gesehen.«
»Sie waren da?«, fragte Dr. Schieder überrascht.
»Auf dem Foto draußen.«
»Oh, natürlich. Das ist ein gewaltiges Ding, nicht wahr? Ehemaliges Hotel. Wir haben da oben nicht die üblichen atmosphärischen Verunreinigungen. Wir empfangen ziemlich ungefiltert das, was uns der Weltraum reinschickt.«
»Und das finanziert die Industrie?«
»Teilweise. Einiges kommt vom Staat. Es ist nicht gut, wenn man sich allein von den Konzernen abhängig macht, die Forschung gerät dann in die Tretmühle. Wenn die Industrie Problematiken vordenkt, verlangt sie keine wirklichen Innovationen, sondern nur wettbewerbstaugliche Verbesserungen bestehender Systeme. Forschung kostet Zeit, und Zeit kostet Geld, so ist das.« Er lachte. »Einige der größten Errungenschaften der Menschheit wurden aus Versehen erfunden. Das ist die Schwierigkeit mit dem Neuen, dem wahren Fortschritt. Irgendwo müssen Sie als Forscher ja anfangen, also fangen Sie dort an, wo Ihr Verstand gerade einhakt. Am Ende stoßen Sie auf etwas völlig anderes, und das bringt die Menschheit vielleicht ein Riesenstück weiter, aber erzählen Sie das mal im Vorfeld einem Investor. Solange wir uns Freiräume bewahren, hat echte Forschung eine Chance, ansonsten steht es schlecht um die Erklärung der Welt.« Er machte eine Pause. »Ich will Sie nicht langweilen. Sollen wir mal rübergehen? Vielleicht haben Sie noch Verbesserungsvorschläge.«
»Welche Art Forscher ist eigentlich O’Connor?«, fragte Wagner, während sie erneut Gänge durchquerten und den Hörsälen zustrebten.
»Was meinen Sie?«, fragte Schieder irritiert.
»Nun ja. Ich denke, er arbeitet an etwas, das mir keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen zu versprechen scheint.«
»Doch, schon. Es geht um Datenübertragung. Natürlich interessiert sich die Wirtschaft für alles, was mit Kommunikation zusammenhängt. Ich dachte, Sie kennen seine Auftraggeber.«
»Nicht wirklich.« Sie schwieg verlegen. »Ehrlich gesagt, wir bringen O’Connors Bücher unter die Leute. Die Frage, ob er frei forschen kann, habe ich mir noch nicht gestellt.«
»Machen Sie sich nichts draus.« Sie hatten den Hörsaal erreicht. Einige Studenten waren damit beschäftigt, die Verstärkeranlage zu checken. Schieder bedeutete Wagner, ihm zu folgen. Sie gingen die Treppen hinunter zum Pult des Redners mit der riesigen Tafel dahinter. »Kaum einer macht sich diese Gedanken. Genau das ist unser Problem und wahrscheinlich auch das O’Connors. Freie Forschung hat so einen Ruch in der Öffentlichkeit. Wenn Sie die Leute auf der Straße fragen würden, ob wir lieber einen neuen, superflachen Fernseher entwickeln oder versuchen sollen, Lichtwellen durch Modenkopplung so zu steuern, dass sie sich zu Femtosekundenimpulsen hochschaukeln, wäre die Antwort klar. Aber die Femtotechnologie ermöglicht Ihnen künftig höchste Übertragungsraten und das Verfolgen und Steuern ultraschneller Vorgänge auf atomarer und molekularer Basis, und das kommt dem Fortschritt in der Telekommunikation zugute. Oder nehmen Sie die Materialtechnik. Wenn wir auf Nanobasis Materialien bearbeiten können, sind wir wiederum in der Lage, mikromechanische Gebilde zu konstruieren, die verkalkte Arterien reinigen und Herzinfarkten vorbeugen können. U-Boote in der Blutbahn. Und so weiter und so fort.«
»Schön, aber die meisten Leute wissen halt eher, was ein Fernseher ist. Was ist überhaupt Femtotechnologie?«
»Femtosekunden sind die milliardsten Teile von millionstel Sekunden«, sagte Schieder, ohne belehrend zu klingen. Wagner mochte ihn. Er kam ihr ziemlich bodenständig vor.
»Das meine ich«, sagte sie. »Kein Normalsterblicher weiß das, wie soll er da beurteilen, ob sich Ihre Forschung lohnt?«
Schieder sah sie an.
»Sie haben es erfasst. Die meisten wissen es nicht, aber sie reden alle mit. Eine Vielzahl derer, die über Atomkraft diskutieren, weiß auch nicht, wie ein Reaktor funktioniert. Wenn einer aus Zufall das Penicillin erfindet, klatschen alle in die Hände, aber solange er versucht, es zu erfinden, wollen sie lieber einen ultraflachen Fernseher. So, da wären wir.« Er zeigte auf das Pult. »Ich dachte, wir lassen Dr. O’Connor erst ein bisschen erzählen. Hier kennt zwar jeder seine Arbeiten, aber es hört sich noch mal anders an, wenn er es selbst zum Besten gibt. Dann haben die Studenten ein paar Fragen vorbereitet, aber eigentlich wollten wir erst die Presse zu Wort kommen lassen. Oder?«
»Lassen Sie Ihren Studenten den Vortritt. Was die Presseleute im Vorfeld erfahren, müssen sie nicht erfragen.«
»Vielleicht ergibt sich ja auch alles irgendwie.« Schieder trat zu dem Pult, beäugte kritisch die Oberfläche und blies Staub herunter. »Ist Dr. O’Connor guter Dinge?«
Wagner fragte sich, wie viel Schieder über O’Connor wusste.
»Er ist etwas erschöpft«, sagte sie.
»Erschöpft?«
»Er kommt aus Hamburg, und es ist wohl spät geworden letzte Nacht. Hm. Unter uns, also, um ehrlich zu sein…«
Schieder hob die Brauen. Sie verschwanden unter der Masse in die Stirn gekämmter Haare.
»Ja?«, fragte er gedehnt.
»Er ist betrunken«, platzte Wagner heraus.
Idiotin, schalt sie sich. Du gibst eine hervorragende Diplomatin ab. »Es ist nicht wirklich dramatisch«, fügte sie schnell hinzu. »Ich glaube eher, sie haben in Hamburg ein bisschen auf den Putz gehauen. Der Verlag hat ihn eingeladen, am nächsten Morgen ist man dann eben nicht so frisch, und .«
Читать дальше