Jana war eine Weile spazieren gegangen und hatte die winterliche Luft eingesogen. Im Allgemeinen kamen ihr die Ideen eher nebenbei. Ansatzpunkte fand sie schnell, Zeit kostete die Verfeinerung. Sie schöpfte aus einem reichhaltigen Repertoire und individualisierte die Methode ihrer Wahl im Laufe weniger Stunden. Der Rest war Routine, beinahe langweilig. Ein Gewehr blieb ein Gewehr, eine Pistole eine Pistole. Selbst wenn es sich um Einzelstücke handelte, die eigens für den einen Moment angefertigt wurden, den sich manche ihrer Arbeitgeber bis zu einer Million kosten ließen.
Diesmal war es anders.
Seit Tagen wartete sie darauf, dass sich die Initialzündung einstellte, sich die alles entscheidende Datei in ihrem Kopf öffnete und ihre Geheimnisse preisgab. Im Bewährten fand sich keine Lösung. Wieder und wieder war Jana den Tag durchgegangen, an dem sie sich ihrer fünfundzwanzig Millionen als wert erweisen musste. Immer wieder endete sie in einer Sackgasse. Error. Der Fehler 5 ist aufgetreten. Sichern Sie Ihre Daten. Schließen Sie das Fenster. Versuchen Sie ein anderes Programm. Neustart.
Es wäre halb so wild gewesen, wenn Mirkos Hintermänner die Randbedingungen nicht so eng geschnürt hätten. Aber Ort und Zeit lagen genau fest. Sie wollten es in diesem einen Augenblick, und sie wollten es so, dass es der Welt den Atem verschlug.
Die Quadratur des Kreises.
Wie immer die Lösung aussah, sie würde von bestechender Logik und zugleich vollkommen abstrus sein müssen. Etwas so Unglaubliches, dass selbst die ausgefuchstesten Sicherheitsleute nicht darauf kommen würden.
Ihr Blick wanderte zu der Uhr auf ihrem Schreibtisch. Allmählich fühlte sie Müdigkeit in sich aufsteigen. Es war Viertel vor drei am Morgen. Mittlerweile schnitten keine Scheinwerferkegel mehr durch die Hügel, und die Lichter von La Morra waren verlöscht bis auf einige Straßenlaternen. Jana stand auf, reckte die Gliedmaßen und fühlte eine leichte Verspannung in ihrer linken Schulter.
Das war nicht gut. Sie konnte sich keine körperlichen Ausfälle gestatten. Weder nach stundenlangem Sitzen noch nach durchgearbeiteten Nächten. Sie würde ihr tägliches Sportprogramm überdenken und vielleicht den Masseur wechseln müssen. Sie hatte zweimal mit ihm geschlafen und seitdem den unbestimmten Verdacht, dass der Druck seiner Hände einer albernen Zärtlichkeit gewichen war, wenn er sie anfasste.
Gähnend ging sie hinüber zu der Konsole mit den CDs, wählte Space Oddity von David Bowie und gestattete sich einen letzten Schluck von dem Nebbiolo. Das Glas in der Hand, trat sie bis nah ans Fenster und sah hinaus, so wie sie es immer tat, wenn sie Ratlosigkeit verspürte.
Im Unerwarteten liegt die Chance.
Wer hatte das noch gesagt? Irgendeiner von den Iren? Vermutlich. Sie hatten schon so viele kluge Dinge gesagt. Die Iren waren wirklich gut.
Leicht enerviert ging Jana zurück zum Schreibtisch, stellte das Glas ab und langte mit der Hand nach dem Schalter der Lampe.
Mitten in der Bewegung verharrte sie.
Ihre Hand schwebte einen Moment lang in der Luft und sank dann langsam herunter, während ihr Blick fasziniert auf das Glas gerichtet war. Im letzten Rest des Nebbiolo brachen sich die Lichtstrahlen und erzeugten funkelnde Kaskaden von intensivem Hellrot.
Die Lösung lag im Wein.
Nein, das war tatsächlich zu abstrus. Am besten, sie verschwendete keinen weiteren Gedanken an die Sache und legte sich schleunigst schlafen.
Aber noch während ihr Verstand protestierte, ging sie in die Hocke, ergriff den schlanken Stiel des Glases und begann, es leicht zu drehen und von der Lampe weg- und wieder darauf zuzuschieben. Die leuchtenden Bögen in der Flüssigkeit verloren oder gewannen an Intensität, je nachdem. Sie streckte den Zeigefinger aus und schob das Glas ganz unter die Halogenbirne, bis sich das Licht in einem strahlenden Punkt bündelte, einer kleinen Sonne, dort, wo der Kelch des Glases auf dem Stiel ruhte.
Dann ergriff sie das Glas und trank es aus.
Ungewöhnlich war es!
Aber würde es auch nur im Traum funktionieren?
Die Müdigkeit war verflogen, von Verspannung keine Spur mehr. Jana zog eine Schublade auf, entnahm ihr einen neuen Block und einen Bleistift und begann zu arbeiten.
JUNI. KOELN. 1. PHYSIKALISCHES INSTITUT
Für die meisten war O’Connors Besuch Anlass zur Freude.
Wagner nahm sich vor, alles zu tun, um die Freude einigermaßen abzusichern, als sie um Viertel vor sechs ihre Eltern verließ, aber ein Unwetter konnte man auch nicht mehr als ankündigen. Auf O’Connor warteten rund vierzig Studenten, eine Hand voll Professoren und diverse Leute von der Kölner Presse. Entweder sie schloss den Physiker im Hotel ein oder fügte sich in das Unvermeidliche, wie immer es sich darstellen mochte.
Die Innenstadt war dicht. Wagner brauchte zwanzig Minuten, um zum Institut zu gelangen und den Golf zwischen zwei rostzerfressene Renaults zu bugsieren, deren Seitenscheiben mit Verkaufsangeboten zugeklebt waren. Die Zülpicher Straße, an der die weißen Flachbauten des Instituts inmitten einer ausgedehnten Grünanlage hervorstachen, war die Handelsmeile der Studenten für ihre meist vorsintflutlichen Fortbewegungsvehikel. Man konnte Autos erstehen, die als mindestens so ausgestorben galten wie die Saurier, und manche fuhren sogar. In den letzten Jahren hatte sich der Durchschnittszustand der hier versammelten Blechhaufen etwas gebessert, aber immer noch sah man Kuriositäten zu Vorkriegspreisen, denen man kaum zutraute, ihren Parkplatz je wieder verlassen zu können.
Wagner schloss den Golf ab in der Hoffnung, dass niemand ihn zwischenzeitlich kaufte, sah sich nach beiden Seiten um und lief über die Straße. Keine hundert Meter weiter begann jenseits einer Eisenbahnüberführung das studentische Kneipenviertel. Inzwischen, nachdem man jahrelang nicht durch bestimmte Straßen hatte gehen können, ohne auf Drogenverkäufer zu stoßen, die aus ihrer Ware keinen Hehl machten, ging es dort wieder einigermaßen gesittet zu. Einige der schlimmsten Läden hatten dichtgemacht oder die Besitzer gewechselt. Der Auto- und Fahrraddiebstahl war geringfügig zurückgegangen. Wirklich kriminell war nach Aussage einiger Studenten aus Wagners ehemaligem Dunstkreis nur noch das Essen in der Mensa, und selbst das hatte sich angeblich gebessert.
Sie umrundete das Gebäude auf gepflasterten Wegen, bis ihr Bäume den Weg versperrten und sie den kompletten Weg zurück musste. Der Eingang lag versteckt am gegenüberliegenden Ende. Wagner hatte in Köln Germanistik, Politik und Anglistik studiert, bevor sie an die Alster emigriert war, aber das Physikalische Institut hatte sie auch damals nie betreten.
Im Laufschritt nahm sie die wenigen Stufen zu den Glastüren, die ins Innere führten, und durchquerte die dämmrige Halle. Es gab schlimmere und erbärmlichere Orte der Gelehrsamkeit; wenigstens schmückten ein paar Bilder von Radioteleskopen und spektographische Aufnahmen der Erdoberfläche die Wände. Nachdem Wagner die Halle fast vollständig durchquert hatte, las sie zu ihrer Rechten die Aufschrift »1. Physikalisches Institut« auf einer großen Glasfläche. Dahinter lag der Hoheitsbereich der Leute, die verstanden, was der Weltraum zu erzählen hatte. Im angrenzenden Trakt begann das eigentliche Institut. Man kam nicht einfach herein, wenn man nicht angemeldet war. Auch die Wissenschaft schützte sich vor unerwünschten Eindringlingen.
An einer Wand hing ein Telefon. Sie wählte eine Nummer und wartete. Eine Stimme meldete sich.
»Kika Wagner«, sagte sie. »Ich bin die Vorhut von…«
»Ich weiß schon«, antwortete die Stimme. »Warten Sie einen Augenblick, ich hole Sie ab.«
Sie hängte ein und legte den Kopf in den Nacken. Über ihr prangte ein Foto der Zugspitze. Die Spitze der Zugspitze, um genau zu sein. Hineingekauert in das Felsmassiv wartete die kompakte Halbkugel eines Observatoriums darauf, dem Universum seine Geheimnisse abzutrotzen.
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