»Wie bitte?«
»Ich bin tatsächlich der Meinung, dass man eine Eignungsprüfung ablegen müsste, wenn man vorhat, sich ein Studium finanzieren zu lassen. Alle, die große Pläne nur hegen, bis sie sie gegen ein paar Phonstärken Babygeschrei eintauschen können, sollten die Haushaltsschule besuchen und der Forschung nicht auf der Tasche liegen.«
»Aber…«
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Doch, ich…«
»Sie sagten, Sie wissen nicht, welche Ziele Sie haben. Das ist bedenklich. Wollen Sie Kinder?«
Sie starrte O’Connor an, als sei er der fleischgewordene Mr. Hyde.
»Ich denke schon.«
Er beugte sich vor. Sein Ton war jetzt wieder freundlich, beinahe milde. »Ich sage Ihnen, was Sie wollen, meine Schöne. Sie haben ein Herz aus Gold, da bin ich sicher. Aus purem Gold. Das hätten Sie gern in kleine Münze umgewechselt. Nun, in spätestens drei Jahren werden Sie jemanden finden, der das tut. In Münzen, für die man alles kaufen kann, was das Leben nett macht, ohne es zu erhöhen. Willkommen in der Mittelmäßigkeit.«
O’Connor nahm den Blick von ihr, als habe sie aufgehört zu existieren, und wandte sich an alle. »Michael Collins, der arme Mann, der nicht auf die Mondoberfläche durfte, weil einer ja im Schiff bleiben musste, hat einmal von seiner Frau gesagt, es habe ständig Streit gegeben wegen der Weltraumgeschichten. Sie verstand einfach nicht, wie jemand zum Mond fliegen kann, solange zu Hause das Geschirr nicht abgewaschen ist. Die meisten hier werden sich ihre Träume und Visionen über kurz oder lang für einen muffig warmen Platz im bürgerlichen Mittelstand abkaufen lassen. Und warum? Weil sie versuchen, jemand zu werden, den es schon gibt, und das klappt nicht. Ein zweiter Einstein, ein zweiter Hawking, ein zweiter was weiß ich, wer. Sie vergessen dabei, dass Einstein kein zweiter Irgendwer werden wollte, sondern nur ein besserer Einstein. Das ist Ihr Problem und das Problem deutscher Forschermentalität. Sie alle hier würden liebend gern die Erfindungen machen, die andere schon gemacht haben, aber leider fehlt es den meisten von Ihnen an der irritierenden Substanz des Visionären. Irgendwann stellen Sie fest, dass Sie jedes Standardwerk rauf- und runterleiern können und sich selbst durch einen eklatanten Mangel an Inspiration ausweisen. Die Gelehrten des Mittelalters, als die Aufklärung dem Mystizismus den Kampf ansagte, bekannten sich auch nicht gerade zum Bruch mit den großen Alten, mit Aristoteles, Platon, Demokrit. Aber wenigstens empfanden sie sich als die Zwerge auf den Schultern der Riesen. So konnten sie von einer etwas höheren Warte wiederum ein wenig weiter in die Welt hinausblicken und die nächste Generation von Zwergen wieder ein bisschen weiter. Und was tun Sie? Sie lernen all dieses Zeug, Sie lernen es auswendig, und Ihre Professoren bewerten
Sie danach, wie sehr Sie genetisch nach dem Papagei schlagen. Solange Wissenschaft repetitiv bleibt, ist sie keine, wollen Sie das bitte begreifen? Solange Sie im Verlauf einer Stunde wie dieser keine anderen Fragen an jemanden wie mich haben, als was ich gern esse oder wo ich mich kratze, wenn’s mich hinten juckt, enden Sie vor Quizsendungen im Fernsehen. Wozu hören Sie sich aus meinem Mund an, was Sie alles bereits wissen? Wie oft wollen Sie den Rosenkranz des schon Dagewesenen herunterbeten? Forschen Sie! Stellen Sie in Frage! Zweifeln Sie! Zweifeln Sie an mir! Fragen Sie mich etwas wirklich Unbequemes. Solange Sie das nicht schaffen, wird die männliche Hälfte von Ihnen in der angewandten Forschung enden und die weibliche Hälfte ihren Männern das Gefühl geben, Berge versetzen zu können, um sie nach erfolgter Heirat daran zu hindern, es zu tun. Nächste Frage.«
Was für ein Arschloch, dachte Wagner.
»Warum spult er das alles ab?«, fragte sie Kuhn leise. »Sie hat ihm doch gar nichts getan.«
»Darum geht’s nicht«, murmelte Kuhn. »Sie ist lediglich Stichwortgeberin für seine Meinung. In O’Connors Weltauffassung sind alle irgendwie nur Stichwortgeber.«
»Seine Meinung von Frauen ist erbärmlich.«
»Seine Meinung von jedermann ist erbärmlich. Abgesehen von den Kelten. Die findet er prima. Übrigens auch deren Frauen. Wahrscheinlich, weil die echten Kelten alle nicht mehr leben und sich nicht wehren können.«
Eine andere Studentin hob die Hand.
»Dr. O’Connor. Wie wollen Sie es schaffen, das Licht umzuleiten, ich meine, in sinnvolle Bahnen zu bringen? Im Moment haben Sie es nur verlangsamt.«
»Das ist einfach«, sagte O’Connor sichtlich erfreut. »Wir haben es im Übrigen schon gemacht. Wir haben eine zweite Schallwelle rechtwinklig zur ersten in den Kristall geschickt. Sie können das Licht regelrecht herumschubsen und an beliebige Orte auf dem Halbleiter transportieren, bevor Sie es wieder entwischen lassen.«
»Das heißt, Sie können Daten zwischen verschiedenen Glasfasern hin- und herschalten?«
»Ja. Das ist absolut richtig.«
Schieder drehte Wagner den Kopf zu.
»Da haben Sie die Antwort auf Ihre Frage. Die großen Telekommunikationskonzerne arbeiten seit Jahren daran, die Kapazitäten von Datenstrecken zu erhöhen. Die finanzieren ihm seine Forschung.«
Wagner nickte. Mittlerweile hatte sich die erste Studentin wieder gefangen und schoss mit einer Frage dazwischen.
»Dr. O’Connor. Könnten Sie das Licht theoretisch nicht endlos festhalten, indem Sie es durch verschieden umlaufende Schallwellen im Kreis bugsieren?«
O’Connor öffnete den Mund. Dann schloss er ihn wieder und sah die Studentin an, als habe sie gerade erst den Raum betreten.
»Das wäre theoretisch denkbar. Aber Licht ist flüchtig. Ich schätze, auf eine Sekunde Speicherzeit müssten wir kommen.«
»Und…« Wagner sah, wie ihre Wangen zu glühen begannen. »Heißt das, wenn Sie das Licht verlangsamen, dann verlangsamen Sie auch die wahrnehmbare Zeit?«
»Oh!« O’Connor lächelte, und es war ein wirklich nettes Lächeln. »Sie meinen die Sache, Zeitgeschwindigkeit gleich Lichtgeschwindigkeit? Der Spruch war mal in Mode. In der Tat hat Licht immer eine Menge zu tun mit Zeitreisegeschichten. Natürlich, wenn Sie sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, steht in gewissem Sinne die Zeit still. Ihre Masse wird unendlich. Bewegen Sie sich mit Überlichtgeschwindigkeit, rasen Sie der Zeit praktisch davon und verflüchtigen sich in die Zukunft. Ähnliche Zeitverzerrungssymptome kennen wir aus schwarzen Löchern. Aus der subjektiven Sicht eines Betrachters in meinem Kristall verlangsame ich sicherlich die Zeit, er wird die Information, die ein Photon trägt, anders erleben, als wenn es mit den gewohnten dreihunderttausend Sachen an ihm vorbeisauste. Was wollen Sie bauen? Eine Zeitmaschine?«
»Vielleicht.« Sie knüllte den Zettel in ihrer Hand zusammen. »Sofern mir kein Babygeschrei dazwischenkommt.«
O’Connor starrte sie an. Dann lachte er.
»Das will ich bei der plötzlich aufkeimenden Genialität, deren Zeuge ich eben werden durfte, auch nicht hoffen. Aber Babys sind nicht das Problem. Das Problem ist, dass wir sie nur allzu gern zu einem machen, um eine Entschuldigung dafür zu finden, uns aus dem großen Team verabschiedet und in die Mittelmäßigkeit verkrümelt zu haben. Babys können nichts dafür, wenn ihre Eltern beschließen, sich zu Höhlenbewohnern zurückzuentwickeln. Kaum scheint sich Nachwuchs anzukündigen, verhalten sich Menschen wie Schimpansen. Es gibt keine Visionen mehr, kein hohes Ziel, keine Allgemeinheit, nur noch Urinstinkte. Und immer hört man dieselben langweiligen Sprüche: Früher wollte ich mal die Welt bewegen, ich wollte ein Mittel gegen Krebs finden, ich wollte zum Mars reisen, ich wollte Shakespeare spielen, aber seit der Soundso da ist, ist das alles unwichtig geworden. Alles dreht sich nur noch um das offenbar wichtigste Blag der Welt. Von jedem wird erwartet, dass er fasziniert zusieht, wie der Kleine sein Breichen über das Lätzchen kotzt, und wehe, Sie wollen mal über was anderes reden! Wenn Sie wirklich eine Zeitmaschine bauen wollen, bauen Sie verdammt noch mal eine. Mit oder ohne Baby. Glückwunsch! Ich mache jede Wette, dass es nicht funktioniert, aber allein für die Absichtserklärung werde ich Ihnen stundenlang den Schraubenschlüssel halten, und Sie werden dabei so viele Kinder haben können, wie Sie wollen.«
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